Chancen und Herausforderungen der digitalen Gesundheit
Neue digitale Angebote wie das elektronische Patientendossier sind ein grosses Versprechen für die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens. Doch führt die fortschreitende Digitalisierung tatsächlich zu einer spürbaren Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung? Am zweiten hochkarätig besetzten Swiss Governance Forum an der Universität Bern diskutierten Experten und Publikum über aktuelle IT-Trends in der Gesundheitsbranche.
Die Schweizer Bevölkerung wird zunehmend älter, das medizinisch-technische Arsenal wird immer ausgeklügelter und wir fordern alle stets die beste Behandlung für uns und unsere Nächsten, ohne dabei allzu eifrig an die Konsequenzen für Prämien- und Steuerzahlende zu denken. Das stellt das Gesundheitssystem vor Herausforderungen, deren Bewältigung ordnungspolitische Massnahmen mit sich bringen dürfte. Gleichzeitig versprechen innovative Projekte, wie das elektronische Patientendossier oder das eRezept, eine effizientere und transparentere Versorgung für Patientinnen und Patienten. Die rund 150 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Industrie und Patientenorganisationen am Swiss Governance Forum 2018 waren sich aber bewusst, dass es mehr braucht als digitale Lösungen, um das Gesundheitswesen nachhaltig zu verändern. «Die Digitalisierung im Gesundheitswesen umfasst weit mehr als nur das elektronische Patientendossier», erklärte stellvertretend Pascal Strupler, Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG).
Entsprechend gross war die Themenvielfalt am vom Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) der Universität Bern organisierten Forum. Die drei Themenblöcke der diesjährigen Tagung umfassten die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Universität, Staat und Wirtschaft, die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie die zunehmend in den Fokus rückende Kundenorientierung.
sitem-insel als Paradebeispiel für die Zusammenarbeit
Im Begrüssungswort hob Christian Leumann, Rektor der Universität Bern, die grosse wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des digitalen Wandels hervor. «Die Universität Bern erbringt Top-Leistungen auf nationalem und internationalem Niveau, weil wir uns am Platz Bern auf eine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Inselspital, mit dem Kanton und mit privaten Partnern stützen können. Gemeinsam wollen wir als Gesundheitsstandort die Nummer Eins der Schweiz werden», sagte Leumann. Das Kompetenzzentrum für translationale Medizin und Unternehmertum sitem-insel verkörpere die erfolgreiche Umsetzung des Themenschwerpunkts Gesundheit und Medizin der universitären «Strategie 2021». Sie biete Forschenden die Möglichkeit, in einem interdisziplinär zusammengesetzten Team aktuelle Fragen aus akademischer, staatlicher und unternehmerischer Sicht zu beleuchten. Weiter betonte er die unterschiedlichen Beiträge der Universität Bern zum Themenfeld Gesundheit, welche von der personalisierten Medizin, über das Gesundheitsrecht und Regulatory Affairs bis hin zur Prävention mittels Sozial- und Präventivmedizin reichen.
Auch Regierungsrat Christoph Ammann, Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Bern, kam danach auf die zentrale Rolle von sitem-insel für die Etablierung und Stärkung von Bern als innovativen Medizinalstandort zu sprechen. Mit dem 2016 in Kraft getretenen Innovationsförderungsgesetz unterstützt der Kanton Bern innovative Vorhaben wie sitem-insel. Doch Innovationsförderung dürfe nicht als Selbstzweck betrieben werden, sondern müsse einen volkswirtschaftlichen Nutzen mit sich bringen. Das Ziel sei es, dass neue Dienstleistungen, Produkte und Verfahren erfolgreich kommerzialisiert werden und so dem Markt und den Patienten zur Verfügung stehen. «Der Medizinalstandort Bern ist von allergrösster Bedeutung für die Zukunft unseres Kantons. Der Kanton Bern will national und international an der Spitze bleiben», so Ammann. Das Projekt sitem-insel hat den Bund und den Kanton Bern überzeugt – beide unterstützen die Initiierungsphase mit jeweils 25 Millionen Franken. Auch die Privatwirtschaft hat den Nutzen für sich erkannt und sitem-insel konnte bereits einige strategische Partnerschaften mit privaten Investoren zum Erfolg führen.
Staatliche Rahmenbedingungen müssen mit der Digitalisierung Schritt halten
Professor Rudolf Blankart, Inhaber des Lehrstuhls für Regulatory Affairs und Geschäftsleitungsmitglied von sitem-insel, rechtfertigte die Notwendigkeit von Regulierungen im Gesundheitswesen. Die gesundheitliche Versorgung stelle aufgrund von Eintrittsbarrieren, Informationsasymmetrien und Preisregulierung einen unvollkommenen Markt dar. Der Gastgeber des diesjährigen Forums zeigte auf, dass Versicherte dank der Einführung neuer Lösungen, wie beispielsweise des elektronischen Patientendossiers, von mehr Transparenz profitieren. Die Implementierungskosten werden dennoch in der Regel von den Leistungserbringern getragen. Diese Diskrepanz könne in Einklang gebracht werden, wenn der Staat Rahmenbedingungen aufstellt und so für ein gesellschaftliches Optimum sorgt.
Mit den aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen hadert auch die Apothekenbranche. Walter Oberhänsli, CEO und Verwaltungsratspräsident der «Zur Rose Group», hat zum Ausdruck gebracht, dass heutzutage viele Kundinnen und Kunden ihre nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Internet bestellen möchten. Dies ist Stand heute allerdings nicht möglich, da der Online-Versand nicht verschreibungspflichtiger Medikamente einer ärztlichen Zustimmung bedarf. Der bestehende Gesetzesrahmen müsse daher dringen revidiert werden, sodass Anbieter den erhöhten Kundenbedürfnissen gerecht werden können.
Kundenbedürfnisse im Mittelpunkt
Aus Sicht von Fabian Sommerrock, Vorstandsmitglied der CSS Versicherung, schafft der digitale Wandel viele Vorteile für die Patientinnen und Patienten. Ab 2021 würden Gesten- und Sprachsteuerung zum Alltag gehören und durch die Vereinbarung und Durchführung von Terminen mit ambulanten und stationären Leistungserbringern im Internet dürften die Versicherten auf eine effiziente und zielgerichtete Versorgung zählen. Kundinnen und Kunden stünden durch die Digitalisierung dann endlich im Mittelpunkt und die Versicherungen hätten sich nun an ihren individuellen Bedürfnissen zu orientieren.
Wie Bund und Kantone die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen vorantreiben wollen, zeigte Pascal Strupler, Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG), in der Keynote «Strategie eHealth Schweiz» auf. Mit der Förderung der digitalen Vernetzung könnten Verbesserungen beim Informationsaustausch generiert werden. Die Beschleunigung solcher Prozesse sei eine notwendige Voraussetzung für mehr Qualität, Patientensicherheit und mehr Effizienz im Schweizer Gesundheitssystem.
Das nächste Swiss Governance Forum wird am 18. Juni 2019 zum Thema «Regieren» stattfinden. Es wird ausgerichtet von Adrian Ritz, Mitglied der KPM-Geschäftsleitung und Professor für Betriebswirtschaftslehre des öffentlichen Sektors an der Universität Bern sowie Fritz Sager, Geschäftsleitungsmitglied und Professor für Politikwissenschaft am Kompetenzzentrum für Public Management.
SWISS GOVERNANCE FORUM 2018
Organisation: Kompetenzzentrum für Public Management an der Universität Bern und sitem-insel
Thema: Digitale Gesundheit
Ziel: Rahmen für Austausch zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zum Thema
Datum: 29. Juni 2018, 14.00-20:00
Ort: Aula, Hauptgebäude der Universität Bern
Anzahl Teilnehmende: 150
Nächstes Forum: 18. Juni 2019 zum Thema «Regieren»
KOMPETENZZENTRUM FÜR PUBLIC MANAGEMENT KPM
Das Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern wurde 2002 gegründet. Als interdisziplinäre Einheit, angesiedelt zwischen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, sieht es sich der Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen Recht, Ökonomie und Politikwissenschaft verpflichtet. Kernprodukt des Kompetenzzentrums ist ein Nachdiplomstudiengang mit Masterdiplom (MPA). Ein zweites wichtiges Standbein des neuen Kompetenzzentrums ist die Grundlagenforschung im Bereich der Verwaltungswissenschaften. Und drittens werden Dienstleistungen für die öffentliche Hand in Form von Beratungen, Gutachten und Evaluationen erbracht.
ZUM AUTOR
Kosta Shatrov ist Doktorand und wissenschaftlicher Assistent am Kompetenzzentrum für Public Management. Seine Dissertation verfasst er im Bereich der Gesundheitsökonomie.