Wissenschaft und Politik treffen sich im Käfigturm
Am 12. September 2018 feierte die Bundesversammlung ihren 170. Geburtstag. Zu diesem Jubiläum fand die Buchvernissage «Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung» im Polit-Forum Bern statt. Diese zeigte: Die Politikwissenschaft ist alles andere als im Elfenbeinturm gefangen.
Bis auf den letzten Stuhl waren die beiden Zuschauerräume im Käfigturm besetzt, als Adrian Vatter, Direktor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern, sein neuestes Buch präsentierte: Zusammen mit anderen Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern hat er als Herausgeber die erste Übersicht und Bestandsaufnahme zu den Schweizer Parlamenten seit über 25 Jahren verfasst. An der Vernissage traf Vatter nun auf Ständerat Andrea Caroni (FDP) und Nationalrätin Flavia Wasserfallen (SP), um den Forschungsbeitrag einem Praxistest zu unterziehen. Gastgeber Thomas Göttin, Direktor des Polit-Forums Bern, wies zuerst auf die Nähe von Politik und Wissenschaft in der Bundesstadt hin – diese Nähe erlebte das Publikum während des ganzen Anlasses. Die Veranstaltung zeigte, wie es gelingen kann, mit Politik und Gesellschaft in den Dialog zu treten und Forschungsergebnisse nutzbar zu machen.
Macht und Ohnmacht der Volksvertretung
Für die Wahl des Zeitpunkts der Buchvernissage nannte Vatter zwei Gründe: Einerseits die Parlamentswahlen im kommenden Jahr, andererseits das diesjährige Jubiläumsjahr der Bundesverfassung. Vatter präsentierte zunächst einzelne Beiträge aus dem Sammelband und hob drei Punkte hervor: Das Bundesparlament sei «ein aktives Organ». Dies gelte vor allem für die Gesetzgebung, bei der das Parlament mit parlamentarischen Initiativen von sich aus aktiv werde und auch wichtige Vorlagen stark abändere. Hingegen sei das Bundesparlament in der Kontrolle der Regierung etwas weniger aktiv, was mit den beschränkten finanziellen und personellen Ressourcen zusammenhänge. Weiter hätten die Konflikte zwischen den politischen Institutionen zugenommen, während aber gleichzeitig die Unterschiede zwischen Parlament und Volk bei Volksabstimmung langfristig abgenommen hätten. Schliesslich stünden die kantonalen Parlamente von verschiedenen Seiten unter Druck: Eine Schwächung erfahren sie aufgrund der starken Regierungen, dem geringen Professionalisierungsgrad und der ausgebauten Direktdemokratie. Allerdings bestünden grosse Unterschiede zwischen der West- und Ostschweiz sowie zwischen den Landsgemeinde- und Repräsentativsystemen.
Erfolgreicher Praxistest
Den Parlamentsmitgliedern Wasserfallen und Caroni gefiel das präsentierte Buch so gut, dass beide gleichermassen das «Duell der Streber» – wie Caroni es nannte – gewannen: Beide hatten es geschafft, das Buch binnen weniger Tage vollständig zu lesen. Wasserfallen zeigte sich vor allem von der breiten Analyse des Buches beeindruckt. Sie fühle sich darin bestätigt, dass sie als Parlamentarierin «arm und glücklich» sei – dass sie zwar geringe Ressourcen zur Verfügung habe, aber «einen Einfluss geltend machen» könne. Caroni fand es extrem spannend, «erforscht» zu werden. Er könne sich und seine Arbeit so auch reflektieren, vor allem, wenn dies mit kompetenter Hilfe von Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern geschehe. Er habe durch die Lektüre gelernt, wie Politik beim Volk ankomme. Wasserfallen und Caroni empfanden es beide gleichermassen nützlich, dass die eine oder andere Mutmassung, die im politischen Alltag aufgestellt wird, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeglichen oder auf sie verwiesen werden könne.
Und was wünschen sich Wasserfallen und Caroni für eine zweite Auflage? Wasserfallen wollte auf diese Frage nicht antworten, da sie der Meinung ist, dass die Rollen der Politikerin und des Politikers sowie der Wissenschaftlerin und des Wissenschaftlers streng getrennt werden sollten – bei gleichzeitiger gegenseitiger Wertschätzung. Caroni wünscht sich mehr qualitative Ergänzungen bei der Motivforschung.
Parlament und direkte Demokratie
Der im Käfigturm vorgestellte Sammelband richtet sich nicht nur an Parlamentsmitglieder und Medienschaffende, sondern auch an die Wählerschaft, erklärte Vatter – «damit sie weiss, wie das Parlament ein Jahr vor den Wahlen tickt». Das Buch mache zudem Informationen verfügbar, die sonst nur schwer zugänglich seien. Dies gelte im Besonderen für die Kantonsparlamente, die in der Forschung lange vernachlässigt wurden. So erfährt man zum Beispiel, dass der Kanton Genf das stärkste Parlament aller Kantone hat.
In der Diskussion wollte das Publikum von Moderatorin Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich, etwa erfahren, weshalb Geschäfte, die zuerst vom Ständerat behandelt werden, erfolgreicher seien, als Geschäfte, bei denen der Nationalrat als Erstrat amte. Die Frage, wie man als Ratsmitglied in welche Kammer komme, führte kurz zu einer etwas hitzigeren Diskussion zwischen Wasserfallen und Caroni ehe die Debatte darum kreiste, welche Partei mehr für die Heterogenität im Parlament unternehme. Nach der Diskussion sorgte Ben Vatter, Musiker und Liedermacher aus Bern, für Stimmung: Seine Lieder nahmen die Themen direkte Demokratie sowie die Rolle der Parlamentsmitglieder auf und führten sie ad absurdum. Diese Karikatur liess die Podiumsteilnehmenden schmunzeln, das Publikum applaudierte begeistert.
Buchreihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz»
In der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz» (NZZ Libro) analysieren namhafte Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Entwicklungen der Schweizer Politik und Gesellschaft. Politisches Verhalten, Einstellungen gegenüber der Politik, Beschreibung politischer Zustände, Veränderungsprozesse von Institutionen und Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Schweizer geraten dabei ins Blickfeld. Herausgeber sind Adrian Vatter (Professor für Schweizer Politik) und Markus Freitag (Professor für Politische Soziologie) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. In der Reihe sind kürzlich auch «Die Psyche des Politischen» und «Evaluation im politischen System der Schweiz» erschienen.
Zur Autorin
Madleina Ganzeboom studiert Psychologie im Hauptfach sowie Sozialwissenschaften im Nebenfach und arbeitet als Hilfsassistentin von Prof. Dr. Adrian Vatter am Lehrstuhl für Schweizer Politik an der Universität Bern.