«Das Problem ist zu gross für ein einzelnes Fach»
Was können die Kulturwissenschaften zur Bewältigung der Umweltkrise beitragen? Vier Fächer erhalten für ihre Forschung zum «Ökologischen Imperativ» 1,4 Mio Franken: Das vom SNF als potenziell «bahnbrechend» betitelte Projekt ist eine Zusammenarbeit der Institute für Kunstgeschichte, Sozialanthropologie und Amerikanistik. Geleitet wird es von Peter J. Schneemann.
Herr Schneemann, kann Kultur die Welt retten?
Als Kunsthistoriker würde ich gerne begeistert ausrufen «Ja!». Die ernsthafte Antwort ist aber etwas schwieriger und lautet zunächst, dass die Kultur unser Verhältnis zur Welt ständig umgestaltet und neu aushandelt. Dabei geht es weniger um die Bewahrung eines verklärten Idealzustandes als vielmehr um die Bewältigung von Katastrophen, Krisen und Veränderungen. Kultur ermöglicht uns, Szenarien zu entwickeln, Utopien zu erproben, Wahrnehmungen unserer Position gegenüber der Umwelt nachhaltig zu verändern und Handlungsoptionen zu entwerfen. Diese ungeheuer wichtige Aufgabe der Kultur in der Gesellschaft geht aber weit über einen plakativen Mechanismus hinaus, der nach der Lektüre eines Romans oder dem Besuch eines Museums die umweltgerechte Entsorgung messen möchte.
Ihre zugespitzte Frage ist aber so gut, weil damit deutlich wird, dass es also um die Verständigung über Werte geht und damit immer auch «Ideologien» im Spiel sind. Sprechen wir von der Rettung der Welt oder des Menschen? «Ökologie» benennt hier zunächst einmal die Notwendigkeit, in komplexeren Zusammenhängen und wechselseitigen Prozessen zu denken und die klare Trennung von Kultur und Natur aufzubrechen.
Der Schweizerische Nationalfonds fördert Ihr Forschungsvorhaben mit 1,4 Millionen Franken – eine hohe Summe für ein kulturwissenschaftliches Projekt. Was möchten Sie erforschen?
Unser Projekt zeigt im Titel einen grundlegenden Perspektivwechsel an: Anstatt bei Momenten der Darstellung und Analyse zu verharren, richtet sich unser Blick explizit auf Momente des Engagements und der Handlung. Das ist für die Wissenschaft durchaus eine Herausforderung. Vielleicht darf ich es ganz anschaulich werden lassen: Ich habe immer für kritische «Distanz» zum Gegenstand geworben – diesmal geht es um Formen der «Involviertheit».
Welche Erfahrungen mentaler und sogar sinnlicher, das heisst körperlicher Art führen zu Veränderungen in Wahrnehmung und Verhalten? Nicht zufällig spielen Beschreibungen, Bilder und Umwelterlebnisse eine enorme Rolle in der Vermittlung von Dringlichkeit. Ihre affektive Kraft bleibt meist unreflektiert. Wir wissen sehr genau, dass abstrakte Zahlen und Informationen zunächst einmal in nur sehr eingeschränkter Form unser Selbstverständnis und Handeln verändern können. Kunst und kulturelle Praktiken beziehen uns unmittelbar ein, operieren mit Materialitäten und Räumlichkeiten, Bewegungen und sozialen Interaktionen, mit unseren Sinnen und Emotionen.
Wie können diese kulturellen Praktiken den Ökologischen Imperativ konkret vermitteln?
Nun, da muss ich natürlich ein Beispiel aus meinem Bereich wählen. Der mexikanische Künstler Abraham Cruzvillegas, der 2018 im Kunsthaus Zürich eine wichtige Ausstellung hatte, steht für eine Herangehensweise, die ich für höchst relevant halte. Seine Werke lassen uns in der riesigen Turbinenhalle der Londoner Tate Modern plötzlich verfolgen, wie aus der Erde, die er aus allen Parks in London mühsam zusammengetragen hat, die unterschiedlichsten Samen keimen – auf einer gigantischen Installation unter künstlichem Licht. Eine Art von Mapping der grünen Orte in London. Aber was sind das für gesellschaftliche Institutionen, ein Park und ein Museum, wo wir einem Ökosystem begegnen? Welche Prozesse lassen wir zu? Welche sind völlig unabhängig von uns? Als in den 1970er-Jahren der Land-Art-Künstler Walter De Maria in New York den berühmten «Earth-Room» schuf, wurde die Erde «keimfrei» gehalten – kein Samen darf bis heute in dieser «Kunst-Erde» spriessen.
Wo liegen die Probleme eines «ökologischen Anspruchs»?
Lassen sie mich vielleicht nur zwei Problemkreise ansprechen. Die Kulturszene führt nicht ganz zu Unrecht intensive Diskussionen darüber, in welcher Weise eine wirklich breitere gesellschaftliche Strahlkraft erreicht werden kann und muss. Gerade in der Kunstwelt der Gegenwart kennen wir die selbstgenügsame und autoreferentielle Bestätigung im kleinsten Kreis. Auf der anderen Seite möchte ich mich aber klar gegen eine Reduktion von Kunst auf ein didaktisches «Lehrmittel» oder auf die Illustration einer besseren oder «heilen» Welt aussprechen. Kultur setzt sich nicht nur mit «Reinheit» auseinander, sondern eben auch mit «Kontamination», adressiert Ängste und Verdrängtes, überformt Traumatisches. Sie entwirft Utopien ebenso wie Dystopien.
Weshalb sind ausser der Kunstgeschichte auch die Disziplinen Sozialanthropologie und Amerikanistik am Forschungsprojekt beteiligt?
Meine Kollegin, Professorin Gabriele Rippl, brachte Motivation und Ertrag der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen auf die schlagende Formel: «Das Problem ist zu gross für ein einzelnes Fach». Wir erproben quasi eine «Ökologie der Forschung». Unsere Kompetenzen sind dabei auf das engste miteinander verzahnt und wir haben ein Schaubild entwickelt, das unseren Fokus auf die Breite der involvierten «Medien» und «Praktiken» verdeutlicht. Stark vereinfacht könnte man vielleicht die vier Ansätze unserer Projekte so benennen: Ästhetiken des Bildes oder Abbildes in der Fotografie, literarische Beschreibungen und Imaginationen, Verräumlichung in der Gegenwartskunst und schliesslich kollaborative Praktiken, also Entwürfe der Zusammenarbeit in der Sozialanthropologie.
Letztendlich geht es also um nichts anderes als um die Überwindung der Vorstellungen eines reinen Abbildens und Zeigens von «Realität». Ausserdem befragen wir selbstverständlich auch unsere jeweiligen Methoden. Im Projekt von Professorin Michaela Schäuble wird etwa deutlich, wie sehr eine Disziplin auch ihr eigenes Vorgehen im Sinne des Engagements und der Übernahme von Verantwortung zu reflektieren vermag.
Sie werden innovative Fallstudien als Forschungsmethode anwenden: Wie könnte eine solche Fallstudie aussehen?
Sie sprechen einen sehr wichtigen Aspekt des Forschungsprojektes an. Die grosse Vielfalt von Materialien und Medien wird zusammengehalten von sehr sorgfältig erarbeiteten gemeinsamen Fragestellungen. Wir entwerfen ein Tableau von Medien, Formaten und Modi, über die der Ökologische Imperativ vermittelt wird. Während unser Kollege in Mexiko-City, Professor Peter Krieger von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, sich etwa mit der Bildpolitik von Katastrophenbildern beschäftigt, untersucht die Berner Amerikanistin Gabriele Rippl Beschreibungen von Kultur- und Umwelt-Konstellationen etwa in den Romanen von Margaret Atwood. Unter dem Begriff der «eco-ekphrasis» entsteht hier ein ganz neuer Ansatz. Mein eigenes Team interessiert sich für künstlerische Strategien, die das Medium Bild überwinden und mit Erfahrungsräumen arbeiten. Das Publikum kennt zunehmend solche auch performativ und installativ aufwändigen Beispiele von Künstlerinnen und Künstlern wie Pierre Huyghe, Abraham Cruzvillegas oder Pamela Rosenkranz.
Vom 26. bis 28. November 2020 wird die Tagung «Der ökologische Imperativ» das Projekt einer breiten Öffentlichkeit vorstellen und mit internationalen Expertinnen und Experten in Bern diskutieren. Geben Sie uns einen Vorgeschmack auf die Konferenz?
Es ist ja eine seltsame Koinzidenz, dass unser Projekt mit der Covid-19-Situation konfrontiert ist. Die wertvollen persönlichen Begegnungen und Diskussionen sind plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern ein kostbares Gut. Stichworte wie Mobilität, Ansteckung, Transformation markieren dabei die Nähe zu unserem Thema. Wir möchten sichtbar werden lassen, dass wir nicht nur in ein grosses und sehr aktives Netzwerk eingebunden sind, sondern demonstrieren, wie anregend eine solch anspruchsvolle Zusammenarbeit der Disziplinen sein kann. Wir sind davon überzeugt, dass wir die wissenschaftliche Praxis einer Tagung so gestalten können, dass sie das Interesse einer breiten Öffentlichkeit findet.
Wofür wird das Geld des SNF ausgegeben?
Nun, die Geisteswissenschaften sind bescheiden. Das Budget benennt vor allem Stellen für Doktorierende. Das ist insofern sinnvoll, als hier eine Generation bereitsteht, die nicht nur das Thema mit grösster Motivation bearbeitet, sondern auch gewohnt ist, in übergreifenden Kooperationen innovativ zusammenzuarbeiten. Wir wissen aus mehreren Hauptseminaren, dass unter den Studierenden grösstes Interesse für die Dimension des Ökologischen besteht.
Auch die Aufgabe des Projektkoordinators, Dr. Toni Hildebrandt, der sich für die Nachhaltigkeit in der Lehre eingesetzt hat, ist ausgesprochen wichtig. Er forscht in seinem Habilitationsprojekt zu Imagination und Darstellung nuklearer Katastrophen im Dokumentarfilm.
Forschungsprojekt «Der ökologische Imperativ»
Das SNF-Projekt «Mediating the Ecological Imperative: Formats and Modes of Engagement» ist ein gemeinsames Forschungsvorhaben der Institute für Kunstgeschichte, Amerikanistik und Sozialanthropologie an der Universität Bern. Zudem wird eine Zusammenarbeit mit der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko UNAM realisiert. Forschungsschwerpunkte sind die Bildpolitik des Klimawandels, die Rolle ökologischer Fragen in Kunst und Literatur sowie das gesellschaftliche Engagement für die Umwelt in indigenen Kulturen.
Den Begriff des Ökologischen Imperativs prägte der Philosoph Hans Jonas bereits mit seinem Buch Das Prinzip Verantwortung (1979), in dem er in Anlehnung an Immanuel Kants «Kategorischen Imperativ» eine ökologische Handlungsmaxime formulierte: «Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden».
Sinergia-Projekte des Schweizerischen Nationalfonds SNF
Mit dem Programm Sinergia richtet sich der SNF an etablierte Forschende und finanziert interdisziplinäre, kollaborative und innovative Forschungsprojekte, die Aussicht auf bahnbrechende Erkenntnisse haben («breakthrough research»).
Allein im Jahr 2020 hat der SNF vier neue Sinergia-Projekte bewilligt, die unter der Leitung der Universität Bern stehen. Ausser dem Forschungsprojekt «Mediating the Ecological Imperative» von Prof. Peter J. Schneemann sind dies:
Klinik und Poliklinik für Angiologie: Disease-targeted next-generation sequencing panel (VASCSequ) for detection of somatic-mosaic mutations in congenital vascular malformations to enable further advances in personalized therapeutic decision making
Institut für Politikwissenschaft: Evidence-based Transformation in Pesticide Governance (Prof. Karin Mirjam Ingold).
Institut für Pathologie: Trans-omic approach to colorectal cancer: an integrative computational and clinical perspective (Prof. Inti Zlobec).
Über Peter J. Schneemann
Prof. Dr. Peter J. Schneemann ist Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Universität Bern. Neben dem Ökologischen Imperativ ist u.a. die Geschichte der Kunstbetrachtung in der Moderne und der Gegenwart einer seiner Forschungsschwerpunkte.
Zuletzt legte er eine Publikation zur Bedeutung und Geschichte der Kunsthalle Bern vor, ausgerichtet auf die «Verortung» von Kunst: Localizing the Contemporary.
Kontakt:
Prof. Dr. Peter J. Schneemann
Abteilung für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart
Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern
E-Mail: peter.schneemann@ikg.unibe.ch
Über die Autorin
Nina Jacobshagen arbeitet als Redaktorin Corporate Publishing in der Abteilung Kommunikation und Marketing der Universität Bern.