Beweislast aus Bern im Fall Vioxx
Vor fünf Wochen wurde das Rheumamittel Vioxx weltweit vom Markt genommen. Der Grund: In einer Studie bestätigte sich der Verdacht, dass das Medikament herzkrank machen kann. Mediziner der Uni Bern zeigen nun im Fachmagazin «Lancet», dass die Risiken bereits im Jahr 2000 nachweisbar waren.
Am 30. September wurden Peter Jüni und Matthias Egger vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin an der Uni Bern von einer Nachricht aus den USA überrascht: Der Pharmakonzern Merck & Co. nahm das Rheumamittel Vioxx weltweit vom Markt. Der Grund: In einer Studie bestätigte sich der Verdacht, dass der Blockbuster vermehrt zu Herzinfarkten führen kann. Just zum Zeitpunkt der Vioxx-Rücknahme trug im Rahmen eines nationalen Forschungsschwerpunktes zum Thema chronische Schmerzen (NFP 53) ein Team um Jüni und Egger Daten zusammen, mit denen die Wirkung von althergebrachten und neuen Medikamenten gegen Arthroseschmerzen miteinander verglichen werden soll. Eines ihrer Untersuchungsobjekte ist Vioxx – ein Schmerzmittel aus der Gruppe der so genannten Cox-2-Hemmer. Die Berner Mediziner entschlossen sich kurzfristig der Frage nachzugehen, die spätestens mit dem Rückzug des Schmerzmittels Patienten, Ärzte, Behörden und Medien beschäftigte: War das erhöhte Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen bei der Einnahme von Vioxx nicht schon viel früher nachweisbar?

Doppelt so hohes Risiko für Herzattacken
Das erhöhte Risiko für Herzinfarkte habe man bereits Ende des Jahres 2000 belegen können, antwortete Jüni gestern auf einer Pressekonferenz in Bern. «Die Massnahmen von Merck wären schon damals angebracht gewesen», ergänzte Egger. Die Beweisführung für diese Aussagen wird heute in einer vorgezogenen Online-Publikation auf dem Internetportal des Medizin-Journals «The Lancet» veröffentlicht. Die Untersuchung der Wissenschaftler basiert auf einer so genannten Meta-Analyse, in der insgesamt 29 Vioxx-Studien aus den Jahren 1997 bis 2004 begutachtet wurden. Hauptsächlich stammen die Daten von der amerikanischen Medikamentenzulassungsbehörde FDA. Die Auswertung beweist, dass erstmals vor vier Jahren ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Vioxx-Einnahme und einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko zu erkennen war. Bezieht man die neueren Studien in die Begutachtung mit ein, zeigt sich, dass mit einer Vioxx-Behandlung ein mehr als doppelt so hohes Risiko für Herzattacken einhergeht wie normalerweise. Absolut gesehen, ist das Risiko aber trotzdem gering. Angesichts der Tatsache, dass Vioxx allein in den USA zehnmillionenmal pro Monat verschrieben worden ist, hat allerdings bereits ein geringfügig erhöhtes Risiko Tausende von zusätzlichen Herzinfarkten zur Folge.

Mehrere Ungereimtheiten
Bei der Analyse der Daten wunderte die Berner Forscher insbesondere, wie die Ergebnisse der so genannten VIGOR-Studie aus dem Jahr 2000 interpretiert wurden. Die Wirkung von Vioxx wurde in der Studie mit einem anderen Schmerzmittel, Naproxen, verglichen. Es zeigte sich, dass in der mit Vioxx behandelten Patientengruppe fünf Mal mehr Herzinfarkte auftraten als in der Naproxen-Gruppe. Die Leiter der VIGOR-Studie hatten diesen Unterschied der vermeintlich schützenden Eigenschaft von Naproxen zugeschrieben. «Für diese Interpretation fanden wir aber keine Belege», bilanzierte Matthias Egger. Bei der Datenanalyse stiessen die Forscher auf weitere Ungereimtheiten: So wurde das Medikament von Merck mit dem Hinweis zurückgezogen, dass nur eine langfristige Einnahme gefährlich sein könne. «Dies konnten wir nicht bestätigen», sagte Jüni. «Die Daten zeigen, dass ein erhöhtes Herzinfarktrisiko bereits bei einer Einnahmedauer von wenigen Monaten besteht, unabhängig von der Dosis.»
Untersuchungskomission gefordert
Auffallend war zudem, dass in Studien, die von unabhängigen Forschenden analysiert wurden, Vioxx hinsichtlich der Nebenwirkungen deutlich schlechter abschnitt, als in Studien, die von den Studienleitern selbst ausgewertet wurden. Auch wenn Jüni und Egger der Firma Merck diesbezüglich keine direkten Vorwürfe machen wollen und können, fordern sie nun, dass die Gründe für die Ungereimtheiten von einem unabhängigen Gremium untersucht werden müssen. Generell sollten die neuesten Erkenntnisse zu einem Medikament fortlaufend dokumentiert und analysiert werden. «Nur so können wir sicherstellen, dass die Bevölkerung vor unnötigen Medikamentennebenwirkungen geschützt wird», sagte Egger.