Dem unbekannten Gotthelf auf der Spur
Vor 150 Jahren starb Jeremias Gotthelf. Das germanistische Institut an der Uni Bern gedenkt dem Berner Literaten mit einem stolzen Vorhaben: Forscher wollen die Predigten sowie die politischen und pädagogischen Beiträge des einstigen Pfarrers neu herausgeben.
Christian von Zimmermann vom Institut für Germanistik der Universität Bern wird ab 1. November das Archiv der Berner Burgerbibliothek durchforsten: In der Münstergasse lagern die von Hand geschriebenen Predigten des einstigen Pfarrers und Literaten Albert Bitzius. Der Berner Bitzius wurde unter dem Namen Jeremias Gotthelf (1797 – 1854) weltweit bekannt. Von Zimmermanns Institutskollegin Barbara Mahlmann nimmt sich dagegen die Stadt- und Universitätsbibliothek vor. Dort sind die journalistischen Werke Gotthelfs archiviert.

Auf dem Weg zu einer kritischen Gesamtausgabe
Anlässlich des 150. Todesjahres des Berner Dichters begeben sich Mahlmann und von Zimmermann zusammen mit ihren Mitarbeitern auf die Spur des «unbekannten Gotthelfs». Mit ihrer vom Nationalfonds und von der Erziehungsdirektion des Kantons Bern geförderten Arbeit verfolgen sie ein stolzes Ziel: Die nicht-literarischen Texte von Jeremias Gotthelf sollen in drei bis vier Jahren als kommentierte, mehrbändige Edition neu herausgegeben werden. «Wir versprechen uns von unserer Edition ein besseres sozialgeschichtliches Verständnis und eine genauere rhetorisch-stilistische Einschätzung von Gotthelfs Erzählwerk», sagt Mahlmann. Geht es nach den beiden Germanisten, handelt es sich bei ihrer Arbeit zunächst um den ersten Schritt auf dem Weg zu einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Bitzius-Werke.

Leserunfreundliche Gotthelf-Edition
Bislang ist es um die Aufarbeitung von Gotthelfs Gesamtwerk schlecht bestellt: In der massgeblichen 42-bändigen Gesamtausgabe fehlen etwa die Predigten, und die politischen Arbeiten sind nur teilweise enthalten. Ausserdem mangelt es an Kommentaren, die Gotthelfs Texte mit ihren regionalhistorischen Bezügen auch heutzutage interessant machen würden. Und schliesslich stellen die bisherigen Editoren nicht den engen Zusammenhang her zwischen den publizistischen Texten, den Predigten, den Kalenderblättern und den literarischen Werken. Kurzum: Eine umfassende, kommentierte und leserfreundliche Gotthelf-Edition gibt es nicht.

«Gotthelf wurde zu isoliert wahrgenommen»
Die beiden Berner Wissenschaftler wollen nun mit der Aufarbeitung der Predigten, der Kalenderblätter sowie der pädagogischen und politischen Schriften eine erste Lücke schliessen. Gerade in diesen Texten habe sich Gotthelf bereits Jahre vor seinen ersten literarischen Werken als impulsiver satirischer Zeitkritiker und als unerbittlicher Analytiker menschlicher Schwächen entpuppt, sagt von Zimmermann. Mit der Bearbeitung der Predigten betritt der Germanist nahezu Neuland: «Bislang sind weniger als ein Sechstel der knapp 400 Predigten Gotthelfs editiert worden.» Kollegin Mahlmann kann dagegen beim Studium der pädagogischen und politischen Schriften des einstigen Pfarrers zu Lützelflüh auf bestehendes Material bauen. Sie will jedoch die Schriften, in denen Bitzius etwa bessere Unterrichtsbedingungen im Kanton Bern fordert, in einen breiteren historischen und politischen Zusammenhang rücken. «Gotthelf wurde bislang zu isoliert wahrgenommen», stellt sie fest. Laut Mahlmann sollen deshalb in der neuen Edition auch Mitstreiter und Gegner Gotthelfs zu Wort kommen.
Vortragsreihe und internationale Tagung
Anlässlich des 150. Todesjahres von Jeremias Gotthelf starten an der Uni Bern nicht nur Mahlmanns und von Zimmermanns Forschungsprojekte: Am 27. Oktober beginnt ausserdem eine öffentliche Vortragsreihe des Collegium generale zum Thema «Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker». Zudem findet vom 4. Bis 6. November 2004 unter dem Titel «Jeremias Gotthelf. Wege zu einer neuen Ausgabe.» eine internationale Tagung mit renommierten Editionsphilologen und Bitzius-Spezialisten statt.
Weiterführende Informationen
Internationaler Kongress
«Jeremias Gotthelf. Wege zu einer neuen Ausgabe.» 4. bis 6. November 2004 Schlösslistrasse 5, 3008 Bern Auskünfte: Barbara Mahlmann, Christian Zimmermann