Im Zelt unters Messer
Ihre bis zu 1200 Kilogramm schweren Patienten operieren die Ärzte der Wiederkäuerklinik wegen Umbauarbeiten zurzeit im Zelt. Die kranken Kühe, Schafe und Ziegen kümmert es kaum. Mit schwankenden Temperaturen und verlegten OP-Utensilien hat indessen das Personal zu kämpfen.

Es ist Dienstagnachmittag, kurz vor zwei Uhr. Im Operationssaal der Wiederkäuerklinik an der Vetsuisse-Fakultät der Uni Bern liegt eine braune Kuh seitwärts auf einem rund vier auf zwei Meter grossen OP-Tisch und schnaubt leise vor sich hin. Der Speichel tropft aus ihrem Maul. Trotz Beruhigungsmittel sind ihre Augen weit aufgerissen und die Ohren gespitzt. In einem der beiden Ohren trägt die Kuh eine gelbe Marke mit der Nummer 0606. Weil sie lahmt, hinten rechts, wurde Patientin 0606 in die Wiederkäuerklinik eingeliefert. Die Ursache: Ein Kniescheibenband versperrt den reibungslosen Bewegungsablauf. „Es muss durchtrennt werden“, erklärt Klinikleiter Steiner den anstehenden kleinen Eingriff. Auf dem OP-Tisch bringen Steiner und der Pflegechef Hansrudolf Zingg den rechten Hinterlauf von Kuh 0606 in Position. Die Operationsstelle wird geschoren und desinfiziert. Steiner legt sich währenddessen eine grüne OP-Kluft an. Nach allen Vorbereitungen spritzt er ein Betäubungsmittel in den Operationsbereich. Drei Minuten später will er loslegen. Doch das richtige Messer fehlt. Er bittet Zingg zu suchen, in einem der drei Baucontainer.
Bis zu 35 Grad heiss
Im Operationssaal (OPs) der Wiederkäuerklinik herrschen bereits seit Juni ungewöhnliche Bedingungen: Im Sommer war es heiss, «teils über 35 Grad», erzählt Zingg. Langsam wird es unangenehm kühl. Einige Stubenfliegen schwirren umher. Von draussen dringt Verkehrslärm in den Saal. Der Grund: «Der OPs» gastiert im Zelt. Wegen dem Bau eines neuen OP-Traktes mussten Mitarbeiter und Geräte vor rund vier Monaten ins Zelt umziehen. Der etwa 200 Quadratmeter-grosse Planensaal wurde zwischen der Bremgartenstrasse und der Klinikhalle auf dem Spital-Parkplatz aufgeschlagen. Zwischen und auf den gelben Markierungen auf dem Boden ist derzeit kein Auto parkiert, sondern der OP-Tisch, das Narkosegerät, die OP-Lampe und allerlei anderes OP-Material. In den drei Baucontainern im Zelt lagern Medikamente, sterile Kittel und Tücher, Spritzen, Einweghandschuhe und OP-Bestecke.

Gesucht wird das OP-Besteck
Während Rinder, Schafe, Ziegen und Alpaccas die Bedingungen im Zelt kaum kümmern, machen sie den Mitarbeitern ab und an das Leben schwer. «Die Materialien sind oft am falschen Ort», klagt Zeltchef Zingg, der hofft nicht bald noch in Winterjacke im OPs stehen zu müssen. «Die Infrastruktur im Zelt ist um einiges komplizierter als in der Klinikhalle», ergänzt Steiner. Bei aller Improvisation könne aber – soweit nötig - steril gearbeitet werden. Die drei Operationen, die im Schnitt pro Tag in der Wiederkäuerklinik auf dem Terminplan stehen, verliefen bislang ohne nennenswerte Zwischenfälle. Typische Erkrankungen, die operativ behandelt werden müssen, sind etwa Labmagenverlagerungen, Euterverletzungen, Klauenerkrankungen und Kastrationen. An frischer Luft muss laut Steiner nur noch bis Mitte November operiert werden. Bis dahin sollen die neuen Behandlungs- und Operationsräume der Wiederkäuerklinik eröffnet sein.

Leicht schwankend aus dem Zelt hinaus
Für die Operation von Kuh 0606 hat Zingg das richtige Messer mittlerweile gefunden. Steiner schlitzt einen rund drei Zentimeter langen Schnitt in den Kniebereich. Danach sucht er mit seinen in Einmalhandschuhe gehüllten Fingern nach dem störenden Band und trennt es mit dem speziellen Messer durch. Die Kuh brummt, ihre Pupillen wandern nervös umher. Nachdem Steiner die Wunde mit Nadel und Faden verschlossen hat, steht Patientin 0606 zehn Minuten später schon wieder auf den Beinen. Sie wirkt benommen. Leicht wankend trottet sie unter der Obhut einer Pflegerin aus dem Zelt hinaus in Richtung Stall der Wiederkäuerklinik. Vor dem Zelt wartet bereits die nächste Patientin - eine Rotfleck-Kuh. Sie hat sich an der Zitze verletzt. Ausserdem muss an jenem Dienstag ein Labmagen in die richtige Position gebracht, ein Panseninhalt geleert und ein Stier kastriert werden. Es herrscht Hochbetrieb im Zelt. Klinikleiter Steiner zieht sich trotzdem in sein Büro zurück und überlässt die Operationen seinen Kolleginnen. «Ich komme, wenn sie mich brauchen», sagt er. Schwer fällt ihm ein solcher Noteinsatz nicht: «Operieren ist in meinem Beruf das schönste.»