Gewusst wo

Das Wiederansiedlungsprojekt ist geglückt: Die Bartgeier sind zurück im europäischen Alpenraum. Berner Wissenschaftler haben nun herausgefunden, wo sich die Greifvögel in den Bergen am liebsten niederlassen. Das Wissen sollte künftig bei der Wahl der Aussetzungsorte genutzt werden.

06. Januar 2005

Von Sabine Olff

Die Bartgeier besiedeln wieder die Alpen. Vor rund 20 Jahren initiierten Fachleute aus den europäischen Alpenländern ein Projekt zur Wiederansiedlung der Greifvogelart. Der letzte alpine Bartgeier wurde 1913 im italienischen Aostatal von einem Jäger erschossen. Seit Projektbeginn wurden insgesamt 129 Vögel in Österreich, in Norditalien, in Frankreich und im schweizerischen Nationalpark in die freie Wildbahn entlassen. Für den Nachwuchs sorgen die Bartgeier mittlerweile zunehmend selbst, womit das Projekt kurz vor dem Abschluss steht. Womöglich gibt es 2005 sogar die erste Bartgeiergeburt auf Schweizer Gebiet seit fast 120 Jahren: Ein Paar hat sich im Zentralwallis oberhalb von Sion eingenistet.

Bartgeier
Die Bartgeier haben eine Spannweite von bis zu drei Metern. Bilder: Raphaël Arlettaz

Kalkstein, Gams und Steinbock

Wo sich die Bartgeier im alpinen Raum am liebsten niederlassen, haben Wissenschaftler um Raphaël Arlettaz von der Abteilung «conservation Biology» am Zoologischen Institut der Universität Bern untersucht. Im Wallis beobachteten sie rund 30 Vögel bei der Wahl ihrer Heimstätte. Ihr Ergebnis: Bartgeier, die älter als vier Jahre und damit im fortpflanzungsfähigen Alter sind, zieht es in Gebiete mit Kalkfelsen, in denen zudem Gämsen und Steinböcke leben. Jüngere Vögel haben dagegen keine Vorlieben für bestimmte Felsen. Für Ihre Ortswahl ist allein die Gegenwart von Steinwild ausschlaggebend, von deren Knochen sich der Bartgeier ernährt. Der Verlauf des Projekts zur Wiederansiedelung des Greifvogels bestätigt die Beobachtungen der Wissenschaftler: Die ersten sechs brütenden Paare haben allesamt ihr Nest in Nischen von Kalkfelsen gebaut. Ausgesetzt wurden die 129 Bartgeier dagegen unabhängig von ihren geografischen Vorlieben.  

Geröllhalden als Knochenknacker

Warum ziehtder Bartgeier die Kalkfelsen anderen Felsarten vor? Arlettaz kann nur spekulieren. Variante Eins: In Kalksteingebieten gebe es viele Geröllhalden, sagt er. Solche Geröllhalden braucht der Bartgeier um sein ungewöhnliches Nahrungsmittel, die Knochen und deren Mark, fressen zu können. Er fliegt mit einem Knochen im Schnabel in die Höhe und lässt ihn fallen. Auf dem Geröllfeld aufgeschlagen, zersplittert der Knochen in viele Einzelteile. Variante Zwei: Die Kalkfelsen bieten viele Nischen, in denen der Bartgeier sein Nest geschützt vor Wind, Regen und Schnee bauen kann. 

Bartgeier im Fluf
Entlang einer Kalksteinformation gleitet ein Bartgeier durch die Walliser Alpen in der Nähe von Leukerbad.

Gezielte Ortswahl

Die Resultate der Berner Forscher, die kürzlich im Fachmagazin «Journal of Applied Ecology» veröffentlich wurden, sollten laut Arlettaz dazu führen, dass die Bartgeier künftig gezielt in Bergregionen aus Kalkstein, in denen es genügend Nahrung gibt, ausgesetzt werden. «Es besteht eine grössere Chance, dass sich die Tiere dort niederlassen, als in anderen Gebieten», erläutert der Zoologe. Am passenden Gestein mangelt es in der Schweiz nicht: Ein Kalksteingürtel zieht sich fast ohne Unterbrechung von der französischen Grenze über den Pilatus bei Luzern bis hin zu den Churfirsten in der Ostschweiz.