Nichts lieber als Lernen

Wir lernen immer. Das Gehirn kann gar nicht anders. Und: Es macht ihm einen Heidenspass. Das behauptet der deutsche Mediziner Manfred Spitzer. Mit seinen Vorträgen übers «Lernen» füllt er Schulaulen und Hörsäle. Kürzlich war er an der Uni Bern zu Gast.

Von Sabine Olff 27. April 2005

Manfred Spitzer verblüfft sein Publikum gleich mit der ersten Folie. Das Bild zeigt den durchleuchteten Kopf eines dreijährigen Mädchens. Ihr wurde fast die Hälfte des Gehirns amputiert. «Die Frau ist heute vollkommen normal», erzählt der Direktor der psychiatrischen Uniklinik Ulm und Gründer des «Transferzentrums für Neurowissenschaft und Lernen» den verdutzten Zuhörern. Das Gehirn habe sich gut organisiert. Es sei – vor allem in jungen Jahren – unglaublich lernfähig. Mit der Botschaft, dass unser Zentralorgan nichts lieber tue als zu lernen, und Ratschlägen, wie und wann die Lernerei insbesondere zu fördern sei, tourt Spitzer schon seit einiger Zeit durch das von den PISA-Studie gebeutelte Deutschland. Er füllt mit seinen fesselnden Vorträgen Schulaulen, Stadthallen und Hörsäle. Kürzlich war der Professor, der in Medizin und Philosophie promoviert und Psychologie studiert hat, auch an der Uni Bern zu Gast. Für Spitzer ein gewohntes Bild: Der Hörsaal im Inselspital war propenvoll.

Manfred Spitzer bei seinem Vortrag
Manfred Spitzer fesselt die Zuhörer von der ersten Folie an: Das Bild zeigt ein fast um die Hälfte amputiertes Gehirn. Bild: Sabine Olff

Regeln extrahieren

Lernen bedeutet aus neurobiologischer Sicht, dass die Verbindungen, die so genannten Synapsen, zwischen Gehirnzellen stärker werden. Sie verändern sogar ihre Struktur. Bei Kindern bewirken Lernimpulse schnell eine stärkere Verbindung, bei Erwachsenen dauert das länger. «Am Anfang des Lebens kann deshalb sehr viel Neues gelernt werden», folgert Spitzer. Das müsse man nutzen, denn die Fähigkeit nehme Jahr für Jahr ab. Allerdings gehe es nicht darum Einzelheiten zu pauken. «Das Bruttosozialprodukt von Nigeria können sie nachschlagen.» Zustimmendes Schmunzeln im Auditorium. Spitzer geht es um die Regeln, die unser Gehirn extrahiert, wenn es beispielsweise eine neue Sprache lernt. Bereits ein zehn Monate alter Säugling kann die Satzform «a-b-a» von «a-a-b» unterscheiden. «Und mit fünf kann das Kind Deutsch», sagt er. Die Regeln für die Sprache wurden nicht explizit gelernt. Sie wurden vielmehr aufgrund der Beispiele gewonnen, mit denen das Kleinkind im Laufe der Jahre konfrontiert wurde. «Das allermeiste was wir gelernt haben, wissen wir nicht, sondern wir können es.»

Individuelle Landkarten im Kopf

Die Lerngeschichte sieht man dem Gehirn an. Das Gehirn führt quasi Protokoll über seinen Gebrauch. Je öfter Nervenbahnen benutzt werden, desto mehr verfestigt sich die Struktur. Es entstehen schliesslich gebrauchsabhängige Spuren im Kopf, aus denen sich individuelle Landkarten formieren. «Bei diesem Prozess sind frühe Erfahrungen ganz wesentlich», betont Spitzer. Je früher diese Atlanten entstehen, umso besser. Denn sie sorgen laut dem Ulmer Psychiater dafür, dass Gelerntes auch behalten bleibt. 

Spitzer mit einem Modell des Gehirns
Vor eineinhalb Jahren gründete Spitzer in Ulm das «Transferzentrum für Neurowissenschaft und Lernen». Bild: Matthias Kessler/Ulm

Doch die Kost, die den kindlichen Gehirnen heute vorgesetzt wird, vermag oftmals die Struktur nicht ausreichend zu bilden. «Bei dem Input wird mir ganz anders», formuliert es Spitzer lax und nennt als grössten Strukturverhinderer die Bildschirmmedien. «Wie soll die Hirnrinde aus den TV-Bildern schöne Landkarten machen?», fragt er. Es sei extrem wichtig, dass die Kinder mit Menschen umgehen, dass sie «live» hören, sehen und fühlen können. Eine Studie mit mehr als 2500 ein- und dreijährigen Kindern zeigt denn auch, dass die Zeit, die die Knirpse vor der Glotze verbringen, mit der Häufigkeit von Aufmerksamkeitsstörungen korreliert. Spitzers Schluss: Fernsehen und Computer sind mindestens bis zur Einschulung kontrainduziert. Und so kommt Spitzer zu einem seiner Lieblingsthemen, der Schule. Dort würden Regeln auswendig gelernt und wieder vergessen, sagt er. Er muss es wissen. Spitzer ist Vater von fünf Kindern, die alle noch zur Schule gehen. In seinem Sinn lernen die Gehirne meist nicht. «Es darf nicht um die Rekapitulation von irgendwelchem Kleinkram gehen.»

Trost für die Älteren

Die Zeit drängt und deshalb hält sich Spitzer aussnahmsweise nicht lange mit der Standpauke auf. Er widmet sich abschliessend dem Thema «Lernen im Alter». Eine Ernüchterung fürs Publikum. Denn neurobiologisch gilt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans auf jeden Fall nicht mit der gleichen Leichtigkeit oder sogar überhaupt nicht mehr. Die Synapsen lassen sich mit zunehmendem Alter immer schlechter modifizieren. Die Lernfähigkeit nimmt somit drastisch ab. Betroffen sind alle, die älter als 17 Jahre sind. Ein kleiner Trost bleibt: Mit dem langsameren Lernen im Alter komme sozusagen die Feinjustierung. Spitzer: «So werden wir weise.» Auch sein Vortrag in Bern endet für den Mann aus Ulm in gewohnter Manier. Es gibt anhaltenden Applaus.

Weiterführende Informationen

1. Berner Neuropsychiatrisches Symposium

Am 2. Juni 2005 kommt Manfred Spitzer erneut nach Bern, und zwar an die Universitätsklinik für Sozial- und Gemeindepsychiatrie. Er wird auf dem Symposium einen Überblick über die neurobiologischen Erkenntnisse bei psychiatrischen Störungen und deren Auswirkungen auf die Therapie geben.