Und plötzlich existiert die linke Welt nicht mehr

Menschen mit einer geschädigten rechten Hirnhälfte nehmen oft die linke Seite nicht mehr wahr; sie leiden unter dem «Neglekt-Syndrom». Der Neurologe Thomas Nyffeler erforscht die Therapie mit Magnetstimulation und erhält dafür den Forschungspreis des Departements Klinische Forschung der Uni Bern.

Von Bettina Jakob 15. November 2006

Es ist früher Morgen auf der Neuropsychologischen Rehabilitation am Inselspital Bern. Ein Patient steht vor dem Spiegel und rasiert sich. Jedoch nur rechts im Gesicht, links bleiben die Bartstoppeln stehen. Der Patient hat sie nicht wahrgenommen – obwohl er nicht blind ist. Auch das Morgenessen hat er nur «einseitig» gegessen. Das Gipfeli auf der linken Tellerseite blieb liegen. Was unwahrscheinlich klingt, ist für viele Menschen mit einer Schädigung der rechten Hirnhälfte «schlimmste Wirklichkeit», wie Oberarzt Thomas Nyffeler sagt. Sie leiden am sogenannten «Neglekt-Syndrom».


Folgen eines Neglekts: Obwohl der Patient die Spaghetti auf der linken Tellerseite sieht, behauptet er, alles aufgegessen zu haben. (Bilder:zvg)

Die Betroffenen haben den Kontakt zu ihrer linken Welt verloren, sie vermögen ihre linke Körperseite weder zu waschen noch zu kleiden, obwohl sie motorisch nicht beeinträchtigt sind. «Die rechte Hirnhälfte richtet die Aufmerksamkeit in den linken Raum – funktioniert sie nicht einwandfrei, können die linken Reize nicht mehr interpretiert werden», erklärt Thomas Nyffeler. Der Neurologe sucht nach Therapiemöglichkeiten des «Neglekt-Syndroms». Er wurde am Tag der Klinischen Forschung der Uni Bern mit dem Forschungspreis 2006 über 30'000 Franken ausgezeichnet.

Behandelt wird die gesunde Hirnhälfte

Dem Neurologen Thomas Nyffeler gelang ein Durchbruch: Mittels Magnetfeldern können bestimmte Hirnbereiche nachhaltig stimuliert werden. Die sogenannte transkranielle Magnetstimulation ist nicht neu, aber Nyffeler konnte mit einer bestimmten Abfolge von Stromimpulsen bei gesunden Menschen erstmals eine Wirkung von bis zu 11 Stunden nachweisen; bisher wurde nur ein Effekt von rund einer Stunde erreicht. Der Neurologe erklärt, wie die schmerzfreie, nicht-invasive Behandlung mit einer Magnetspule abläuft: Der Strom aus dem Magnetfeld dringt in das Gehirn ein und bewirkt wahrscheinlich eine strukturelle Veränderung an den Synapsen, den Nervenzellenenden, wo die Neurotransmitter, die chemischen Botenstoffe, andocken und Reize weiterleiten. «Die Aktivität des exponierten Hirnteils wird durch die Stimulation gesenkt», so der Neurologe.


Mit Magnetstimulation kann die Gehirnaktivität schmerzlos beeinflusst werden.

Behandelt soll bei Betroffenen des «Neglekt-Syndroms» nicht etwa die geschädigte rechte Hirnhälfte werden, sondern die linke. Funktioniert nämlich ein Hirnteil nicht mehr wie gewohnt, reagiert der andere Teil mit einer Hyperaktivität. «Normalerweise hemmen sich die beiden Hirnhälften gegenseitig und halten ihre Aktivität im Gleichgewicht», so Nyffeler, ähnlich dem gleichzeitigen Drücken von Gas- und Bremspedal.

Therapie steckt noch in Kinderschuhen

Bei Neglekt-Patienten fällt die Bremse weg und die gesunde Hirnhälfte ist aktiver als vor der Hirnverletzung. «Und genau dieser Zustand verhindert möglicherweise eine Genesung des geschädigten Bereichs», so Thomas Nyffeler. Die Regenerationskräfte des Gehirns sind grundsätzlich hoch, die Neuronen verschalten sich nach Verletzungen oftmals wieder und verlorene kognitive Fähigkeiten werden wieder erlangt. Voraussetzung dafür ist aber, dass der geschädigte Hirnteil aktiv gebraucht wird. An diesem Punkt will Nyffeler in seinen folgenden Studien ansetzen: Den gesunden Hirnteil seiner Patienten mit Magnetstimulation bremsen, damit der geschädigte Bereich wieder aktiv werden und sich möglichst regenerieren kann. Ein Idealfall, den Nyffeler aber nicht versprechen kann: «Die Therapie steckt noch in den Kinderschuhen, ein Erfolg lässt sich nicht abschätzen.»

Messen mit Augenbewegungen

Die klinischen Studien mit betroffenen Patienten sollen noch in diesem Jahr beginnen. Thomas Nyffeler will herausfinden, in welcher Regenerationsphase der Hirnverletzten eine Therapie mit der Magnetstimulation die nachhaltigste Wirkung zeigt. Messen wird der Neurologe diese aufgrund von Augenbewegungen: Je öfter ein Mensch mit «Neglekt-Syndrom» auf die linke Seite eines Bildes blicken wird, desto aktiver kann seine rechte geschädigte Hirnhälfte eingestuft werden – und umso grösser ist die Chance, dass sich die Nervenzellen neu vernetzen.


Augenbewegungen (rot) weisen einen Neglekt nach: Der Patient schaut nie auf den linken Bereich dieses Bildes. 

 

Zur Person

Dr. med. Thomas Nyffeler ist Oberarzt an der Abteilung für Neuropsychologische Rehabilitation der Neurologischen Universitätsklinik am Inselspital Bern. Nyffeler ist in der klinischen Forschung tätig und arbeitet im Labor für Perzeption und Okulomotorik der Uni Bern. Zurzeit weilt der Preisträger im Forschungsaufenthalt in Paris.

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