Stell Dir vor, es ist Vorlesung und keiner geht hin

Dienstag, 13. Juni, 18 Uhr und Montag, 19. Juni, 15 Uhr: Das sind wichtige Koordinaten für die Berner Studierenden. Es gilt abzuklären, ob die Vorlesungen wegen der Schweizer-Matchs an der Fussball-WM abgesagt, verschoben – oder durchgeführt werden.

Von Bettina Jakob 08. Juni 2006

«Einführung in die Proteinkristallographie». Ein ganz feines Thema eigentlich, für einen Dienstagnachmittag von 16 bis 18 Uhr. Doch selbst Dozent und Professor Ulrich Baumann bezweifelt, dass auch nur eine einzige Studi-Seele in dieser Chemie-Vorlesung an der Uni Bern sitzen wird. Ein bisschen hofft er dies sogar – im Gottlieb-Daimler-Stadion in Stuttgart geht nämlich am 13. Juni ein explosives Gemisch hoch. Ab sechs Uhr abends kickt die Schweizer Elf an der WM keck Richtung französisches Tor – da wollen alle längst auf dem Logenplatz vor dem Bildschirm sitzen. Professor Baumann wird diese Terminkollision mit seinen Studierenden diskutieren. Vielleicht wird «die Vorlesung einfach in eine Hausaufgabe umgewandelt», lacht Baumann ins Telefon, spontan wie eine cheimsche Reaktion.


Welcher Professor sieht rot? Derjenige, der seine Vorlesung trotz Match durchzieht, oder der, der verschiebt? (Bild:bilderbox)

Etwas ratlos dagegen wirkt Historiker Rainer Schwinges, hat er doch die Synchronizität der beiden Ereignisse noch nicht bedacht: Auf seinem Stundenplan steht von 16 bis 20 Uhr ein Forschungskolloquium für Fortgeschrittene. Ausgerechnet mit Gästen aus Paris! Das könne man nicht einfach annullieren…«Ich muss mir etwas einfallen lassen», murmelt er. Allez-vite, Monsieur Schwinges!

Archäologen sind ihrer Zeit voraus

Einer jedoch bleibt cool wie Köbi Kuhn. Selbst nach diesem grausamen Foul an seiner hübschen Vorlesung. Professor Rolf Becker vom Institut für Erziehungswissenschaft meint: «Wir sind immer bei der Sache.» Sowohl beim Fussball, aber auch bei der Wissenschaft! Er ist «sehr optimistisch», seinen Hörsaal für den Vortrag eines Gastdozenten über Gerechtigkeitsevaluation zu füllen. Anpfiff für dieses Spiel einer ganz anderen Liga ist wie der Schweizer Match punkt 18 Uhr.

Die beste Flanke zeigen die Archäologen, ganz und gar nicht von gestern: Sie haben ihren Vortrag zwei Stunden vorverschoben. Die Stadt «Sagalassos in Pisidien» wird schon um 16.30 Uhr ausführlich thematisiert, ab 18 Uhr verwandelt sich der Hörsaal aber in ein zeitgemässes WM-Studio mit Fernseher, in dem das Spiel Schweiz-Frankreich übertragen wird. So gelesen auf der Homepage der Abteilung Archäologie des Mittelmeerraumes.

Bibelforscher entscheidet spontan

Selbst für Moises Mayordomo ist die WM «eine höhere Gewalt». Dennoch will der Dozent von der Christkatholischen und Evangelischen Theologischen Fakultät zu seiner «Einführung in die Bibel» antreten – am Montag, dem 19. Juni von 14.15 bis 16 Uhr, dann wenn Helvetien gegen Togo spielt. Für den Theologen ist aber klar: «Wenn wir nur zu viert dasitzen, gehen wir in die Kneipe das Spiel anschauen.» Doch der Anti-Fussballer hofft in diesem Fall auf die Geschlechter-Stereotypisierung; seine Vorlesung ist zu Dreivierteln mit Frauen besetzt.

Vorwiegend Frauen sind es auch, die den Psychologie-Kurs vom Carola Smolenski besuchen. Darin geht es um «Intelligenzentwicklung», und dies, während in Dortmund unsere «Schütteler» das etwas andere Können zeigen. «Ich will Ausweichsmöglichkeiten diskutieren», verspricht Smolenski, die nicht im Abseits stehen will. Auch der Mathematik-Dozent Ilya Molchanov möchte nicht Spielverderber sein: Er denkt daran, seine Vorlesung über Wahrscheinlichkeitsrechnung ab 14 Uhr «einfach sehr schnell» durchzuziehen. Sonst sieht er mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent um 15 Uhr die rote Karte.

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