Lieber Student, würdest Du einen Diebstahl begehen?

Schwarzfahren, stehlen, betrügen: Eine Studie der Berner Bildungssoziologen zeigt, dass nicht nur Menschen aus der unteren Schicht bereit sind, das Gesetz zu übertreten. Gestohlen wird überall – und von allen.

Von Kathrina von Wartburg 28. April 2006

«Könnten Sie sich unter Umständen vorstellen, ihre Versicherung zu betrügen?» Solch delikate Fragen stellte Rolf Becker auf einem Online-Fragebogen. Der Professor für Bildungssoziologie an der Uni Bern und sein Team wollten von Berner Studierenden wissen, ob sie zu einer Straftat bereit seien. Und sie sind es: 48 Prozent der 2444 anonym Befragten würden schwarzarbeiten, 45,2 Prozent schwarzfahren. Eine Versicherung zu betrügen läge für 37,3 Prozent drin, immerhin 11,3 Prozent würden in einem Laden etwas mitgehen lassen. Diese Zahlen sind «kriminell» hoch. Sind die Berner Studentinnen und Studenten kleine Verbrecher? Rolf Becker lacht und winkt ab: «Kriminalität ist eine normale Erscheinung der Gesellschaft.» Die Resultate widerlegten vor allem ein landläufiges Vorurteil: «Dass Menschen aus unteren sozialen Schichten krimineller sind als Menschen aus höheren Schichten und mit einem höheren Bildungsniveau», so Rolf Becker. Er hatte ähnliche Studien bereits in Dresden durchgeführt – mit ähnlichen Resultaten.

Fast die Hälfte von 2444 Studierenden kann sich vorstellen, «schwarz» zu arbeiten. Grafik: Zvg

Arm stiehlt anders als reich

Für den Soziologen steht fest: Gestohlen wird überall – und von allen. «Nur die Art wie sie es tun, unterschiedet die sozialen Schichten voneinander.» Der einfache Arbeiter stiehlt eher im Laden, bricht in ein Haus ein oder inszeniert einen bewaffneten Raubüberfall – er bewegt sich in der sogenannten Massenkriminalität. Die Waffe des Bankfachmanns sei schon eher der Computer, so Rolf Becker: Bilanzfälschungen, Steuerhinterziehungen, Unterschlagung von Zinsen. Die bessere Bildung erlaubt es den Kriminellen mit Krawatten zudem, ihre Verbrechen besser zu verstecken. «Die Menschen aus tieferen Schichten stehlen oft nicht so geschickt und fliegen schliesslich auf.» Diese registrierten Verbrechen ergeben die offizielle Kriminalstatistik – und schon lautet die verbreitete Meinung, die Bösen kämen aus der sozialen Unterschicht.

Das Abwägen vor der Tat

Warum schmuggelt jemand eine Hose aus der Boutique, oder lässt hie und da Zinseszinsen auf ein privates Konto verschwinden? «Klar, die meisten Straftaten sind ein ökonomisches Verhalten, das physisches und psychisches Wohlbefinden bringen soll», meint Becker. Der 12-Jährige fährt schwarz, weil er vor seinen Kumpels prahlen will; er bekommt dafür Anerkennung. Der einfachen Arbeiterin wachsen die Schulden über den Kopf, sie braucht dringend Geld um sich über Wasser zu halten und der Financier möchte sich eine noch grössere Segeljacht kaufen.

Ein Mann stiehlt Parfüms in einem Laden
Vor einem Diebstahl schätzt ein potenzieller Krimineller den Nutzen der Tat ab. Bild: bilderbox

Für alle Kriminellen gilt aber das Gleiche: Der Nutzen muss höher sein als die möglichen Kosten, also die Strafe. Der potenzielle Kriminelle muss abwägen, ob sein Coup gelingen wird, ob er dazu das nötige «Talent» hat und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er erwischt wird: Im Globus eine Bluse für 97 Franken zu stehlen mit dem Risiko dabei erwischt zu werden, eine Anzeige zu bekommen, Busse zu zahlen und von Freunden geächtet zu werden. «Das will überlegt sein», so Becker. Ob sich jemand illegal bereichert, hängt noch von zwei weiteren Faktoren ab: Von der ethischen Einstellung des einzelnen Menschen. Ein schlechtes Gewissen und moralische Grundsätze können handlungsleitend sein, sie lassen den Parameter «Kosten» ganz individuell ansteigen. Umgekehrt legitimieren Menschen mir nichts dir nichts eine illegale Tat – zum Beispiel Schwarzfahren, das tut doch jeder. Dennoch ist und bleibt es eine Straftat, so Becker, «ein Nichtbezahlen einer eingeforderten Leistung.»

3000 Fragebogen warten schon

Doch oft scheint für eine Straftat kein Preis zu hoch zu sein: Selbst die schlimmste Strafe, die Todesstrafe, hält Menschen nicht davon ab zu morden. «Vielleicht könnte es gerade abschreckender sein, wenn unklar ist, wie eine Strafe ausfällt», spekuliert Becker, «wie ein dunkler Schleier des Nichtwissens.» Doch am wirksamsten gegen illegales Handeln sei es, ganz einfach, die Gelegenheiten dazu zu reduzieren: dunkle Strassen zu beleuchten, Poller auf die Strasse stellen, wo Autos durch Quartier rasen, einen permanenten Billetkontrolleur zu stationieren – wie zum Beispiel in London in der Untergrundbahn. Denn: «Wo es keine Bank hat, kann man keine ausrauben», so Becker. Er selber bleibt weiter auf der Spur der Kriminellen: Auf dem Pult warten schon Entwürfe des nächsten Fragebogens. Auch diese Fragen versprechen brisante Antworten.   

Kontakt

Prof. Dr. Rolf Becker, Universität Bern, Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Bildungssoziologie, Muesmattstrasse 27, 3012 Bern, Tel. 031 631 5351 (Durchwahl), Tel. 031 631 5353 (Sekretariat), Email:rolf.becker@edu.unibe.ch

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