Warum Chinesen eine andere Sichtweise haben
Die Traditionelle Chinesische Medizin diagnostiziert anders als die westliche Schulmedizin. Der Grund: In den beiden kulturellen Räumen haben sich völlig andere Denkweisen entwickelt. Die Ringvorlesung der KIKOM gibt Einsichten.
Das kleine Experiment verblüfft. Ein einziges Bild zeigt auf, dass die Asiaten die Dinge anders sehen als die Anglo-Amerikaner. «Ganzheitlicher nämlich», wie Dr. Brigitte Ausfeld-Hafter in der Ringvorlesung der Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin (KIKOM) der Uni Bern sagt. Sie legt eine Folie auf den Prokischreiber und wiederholt einen Test, den der amerikanische Psychologieprofessor Richard Nisbett durchgeführt hat. Die Probe aufs Exempel mit einem ähnlichen Bild: Was sehen Sie auf der untenstehenden Fotografie?

Haben Sie als erstes «Fische» gedacht, grosse und kleine, oder «Pflanzen»? Dann gehören Sie zur Gruppe der Amerikaner, die dreimal so häufig den zentral abgebildeten Fisch angaben als die Asiaten. Diese hingegen scheinen vielmehr auf die Umgebung zu achten: Sechzig Prozent mehr Antworten betrafen den Hintergrund des Bildes und sie gaben zweimal mehr die Verbindung der Elemente untereinander an – wie etwa «Fische schwimmen im Wasser», oder ganz umfassend «Aquarium». Das Fazit, das Nisbett aus dem Experiment zog: Die Asiaten betrachten die Welt im Weitwinkel, die Amerikaner haben eher einen Tunnelblick. «Die Europäer reihen sich ungefähr in der Mitte ein», so Brigitte Ausfeld-Hafter.
Analyse kontra Synthese
«Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen spiegeln sich in der Medizin wider», sagt die Ärztin und gibt ein Beispiel: Jemand hat Kopfschmerzen und schon ist der Föhn daran schuld. Im Westen werden alle möglichen Auslöser analytisch geprüft und einer wird schliesslich als Ursache deklariert. In China machen die Mediziner viel mehr eine Synthese, bei welcher viele, zusammenspielende Gründe für das Kopfweh in Frage kommen: Zuwenig Schlaf, Überarbeitung, Groll und natürlich auch Föhn. «Das synthetische Denken fördert die Intuition, das kausal-analytische wirkt durch Klärung der Fakten», so Ausfeld-Hafter. Erfolgreich sei als Arzt nur, wer beide Denkweisen verbinde.
Die prägenden Philosophien
Warum ist das östliche und westliche Denken so anders? Die Wissenschaft führt das Phänomen auf die intellektuelle Tradition in den beiden kulturellen Räumen zurück. Die Chinesen leben in einem kollektiv anhängigen System und denken daher eher in Zusammenhängen. «Die Gemeinschaft zählt in China mehr als im Westen, die Menschen empfinden sich als Teil des Ganzen», so Ausfeld-Hafter. Diese Auffassung basiert auf dem Konfuzianismus und dem Taoismus, die sich ab dem 5. Jahrhundert v.Chr. entwickelten. Konfuzius predigte Sitten und Moral, erklärte, eine körperlich-geistige Harmonie sei nur durch eine moralische Lebensweise zu erreichen. Lao Tse, Begründer des Taoismus, verfocht das ausgeglichene Verhältnis von Mensch und Umwelt, bezeichnete die Veränderung als einzige Konstante im System; Erkenntnis erlange nur, wer die Widersprüche der Welt akzeptiere. Die dualistisch geprägte Denkweise ist im bekannten Yin-Yang-Symbol versinnbildlicht, das die Zweiheit aller Dinge darstellt.
Ganz anders sieht es im Westen aus: In Amerika und Europa herrscht ein System mit der Grundidee, dass der Mensch frei und unabhängig ist und sein Handeln frei bestimmen kann. Diese Einstellung geht auf die alten Griechen zurück, die hohen Wert auf das individuelle Handeln legten. In den Wissenschaften entwickelten sie Modelle, wonach die Objekte konstante Grössen seien und in kausalen Beziehungen zueinander stünden – ganz im Gegensatz zur chinesischen Auffassung, wonach alles stets im Fluss ist.

Die «Intergrative Medizin»
«Geistiges und Physisches wird in der abendländischen Vorstellung oft getrennt», so Brigitte Ausfeld-Hafter. Die Schulmedizin betrachte einen Körper oft als mechanisch interpretierbare Grösse, der, wenn einmal krank, eine technische Störung habe. Die Ärztin stellt aber die These auf, dass die Medizin zwar naturwissenschaftlich, aber auch philosophisch begründet sei. «Die langfristige Vision ist eine ‹Integrative Medizin›, die eine Verbindung zwischen der Schulmedizin und der Komplementärmedizin darstellt.»