Die Antwort kennen nur die Kopftuch-Trägerinnen selbst
Warum tragen Musliminnen ein Kopftuch? Der Islamwissenschafts-Professor Reinhard Schulze stellt klar: Eindeutige Erklärungen gibt es nicht – der Koran kann unterschiedlich interpretiert werden.
Der Mann trägt Bart, die Frau das Kopftuch: Dieses Bild verkörpert für die westliche Gesellschaft einen Islamisten und eine Islamistin. «Doch in Wirklichkeit hat das wenig mit der islamischen Tradition zu tun.» Reinhard Schulze vom Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Uni Bern machte in seinem Vortrag schnell klar: In der Diskussion um die Kopftuch-Frage können aufgrund der kulturgeschichtlichen Hintergründe nicht eindeutige Antworten gefunden werden. «Denn die Kleidervorschriften im Koran sind nur für Männer ausführlich niedergeschrieben, für die Frau endet die Liste sehr schnell», wie Schulze in der Ringvorlesung des «Collegium generale» festhielt.
«Kleidung der Frömmigkeit»
Schulze vermittelte einen Einblick in die Kleiderordnungen der islamischen Kulturen und stellte fest: «Das Kopftuch hat in der Prophetentradition keine religiöse Aussage.» Da dem Islam ein absolutes religiöses Grundkonzept zugrunde liege, sei die reale Welt stark von der transzendentalen Welt abgetrennt: Entweder bewegt sich der Mensch in seiner Sozialwelt, oder nimmt durch Kulthandlungen – wie Gebet, Gottesdienst, Pilgerreise – bezug auf Gott. «Tritt ein Mensch aus der Sozialwelt in diese Kultwelt ein, kann er dies durch Rituale, durch Sprache und Kleidung signalisieren», so Schulze. Wie sich Musliminnen und Muslime schliesslich in ihrer sozialen Welt anzuziehen hätten, werde im Koran nur kurz und bündig festgehalten – und unterscheide kaum zwischen Mann und Frau: Die Gläubigen sollen die «Kleidung der Frömmigkeit» tragen. «Also die Scham verbergen», so Schulze. Der Körper mit seiner Sexualität werde als Gegenteil des Frommen betrachtet.
Verhülltes Gesicht kommt im Koran nicht vor
Für die Frau wird im Koran der Kleiderkodex nur wenig ergänzt: Sie dürfe den Schmuck nicht offen zeigen, sondern müsse einen Schal auf ihren Kleiderausschnitt schlagen. «Mit andern Worten: Die Frauen sollen nicht barbusig durch die Gegend laufen», übersetzt Schulze. Das habe seinerzeit auch eine klare Abgrenzung von der vorislamischen Zeit bedeutet, als die Frauen nur eine spärliche Kleidung getragen hätten. Noch die ersten Illustrationen aus dem 10. Jahrhundert zeigten Prophet Mohammeds Tänzerinnen halb nackt, so Schulze.
Weiter sind die Frauen – «die Gattinnen und Töchter des Propheten und Frauen der Gläubigen» – angehalten, ihren Überwurf etwas übers Gesicht zu ziehen, damit sie nicht belästigt würden. Die Kleidung der gläubigen Muslimin und des gläubigen Muslims besteht aus einem Unterkleid, einem Oberkleid und dem übergeworfenen Mantel. Bedeckt könne das Haar nicht mehr zu erotischen Gedanken verführen, so Schulze. Daraus entwickelte sich schliesslich der Turban für den Mann und das Kopftuch für die Frau. «Aber von einer Verhüllung des Gesichts, wie sie später in den höheren Schichten in Bagdad begann, ist im Koran nirgends die Rede.»
Sozialer Druck oder Selbstausdruck?
Welche allgemeine Bedeutung das Kopftuch heute nun wirklich hat, nachdem es seit zwei, drei Generationen freigegeben ist – und welches die richtigen Antworten für die gesellschaftlichen Fragen seien, «ist unmöglich zu sagen», so der Berner Islamwissenschaftler. «Nur die Frauen, die es tragen, können eine Erklärung liefern.» Ihre persönliche Absicht nämlich, die unter dem Schleier steckt: «Vielleicht ist das Tuch Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, vielleicht von sozialem Druck – vielleicht aber auch von Selbstausdruck.»