Die Regeln der Schönheit
Ist Kunst schön? Warum gefällt uns dieses Bild? Nicht nur Kunsthistoriker befassen sich mit Ästhetik, sondern auch der Berner Psychologe Bernd Kersten. An einer Tagung will er weiter nach Antworten suchen.
Wann waren Sie zum letzten Mal in einer Ausstellung? Sassen Sie vor einem Bild – oder sind Sie nach einem flüchtigen Blick auf das Kunstwerk einfach weiter gegangen? «Drei bis fünf Sekunden schaut sich der Durchschnittsbesucher den Monet oder den Picasso im Museum an», sagt Bernd Kersten vom Psychologischen Institut der Uni Bern. Experimente zeigen: Selbst nach 30 Sekunden aufmerksamen Betrachtens weiss niemand mehr so genau, was er auf dem Bild gesehen hat. «Sogar Experten können Kunstwerke nur schlecht rekonstruieren», so Kersten.
Was auf einem Bild ist, wird also kaum wahrgenommen. Aber: Trotz dem «prinzipiell schlechten Bild-Gedächtnis», denkt der Psychologe, dass die Menschen sehr wohl – und auch sehr schnell – entscheiden können, ob ein Bild ästhetisch ansprechend ist oder nicht. Und diese Schönheit liegt nicht «im Auge des Betrachters», wie das Sprichwort so schön sagt: «Es gibt klare Regeln für die Ästhetik.», so Kersten. Mittels Messung von Augenbewegungen, Hautreaktionen und Pupillengrösse versuchen die Berner Forschenden zurzeit auf unbewusster Ebene einen Zugang zu diesen «ästhetischen Erfahrungen» der Testpersonen zu finden.
Und so gefällt es uns
Die psychologische Forschung geht davon aus, dass für das Ästhetikempfinden eine «optimale Stimulierung des Sehhirns» verantwortlich ist. «Form, Farbe und Tiefenbewegungen müssen fliessend sein», so Bernd Kersten, was heisst: Je mehr Komplementärfarben eingesetzt werden, desto intensiver wirkt das Gesamtbild. Je realistischer die Raumperspektive dargestellt wird, desto vertrauter ist sie – und desto müheloser kann unser Gehirn diese Anordnung auswerten. Ein Mechanismus, der auch auch für wiederkehrende Formen gilt. «Genau diese flüssige Reizverarbeitung löst schliesslich Wohlgefallen aus», erklärt Kersten – unabhängig davon, ob das Bild nun tatsächlich schön ist oder nicht.
Die optimale Stimulierung ist zugleich die Begründung, warum abstrakte Kunst gefällt: «Im besten Fall sind alle Elemente ideal angeordnet», so der Psychologe und gibt gleich ein Beispiel: Die «Action Paintings» von Jackson Pollock sind mehr als wilde Farbschmierereien, wie Analysen zeigen. Vielmehr weist ein Ausschnitt eines Bildes in seiner Vergrösserung wiederum die gleiche Struktur wie das Gesamtbild auf – einer Koralle gleich, deren Äste aussehen wie die Koralle selbst. «Diese Selbstähnlichkeit kennen wir bestens aus der Natur», so Kersten, Pollock wollte ja auch «den Rhythmus der Natur einfangen», wie dieser selbst einmal sagte. Der Effekt der Bilder Pollocks auf unser Gehirn: Die Reize sind vertraut, werden süffig verarbeitet – und uns gefällts.
Der hässliche Fisch…
Mögen wirklich alle dasselbe? Tendenziell schon, wie ein Experiment von Bernd Kersten zeigt: Kinder, erwachsene Laien und Kunst-Lehrer ordnen acht verschiedene Fischarten nach ihrer Schönheit ein: Alle drei Gruppen kommen schliesslich zum gleichen Ergebnis – die Kinder sehr spontan, die Kunstkenner etwas weniger entschlossen (siehe Tabelle). Dieses Ergebnis legt nahe, dass es einen Prototypen geben muss, der den meisten Betrachtenden, ungeachtet ihrer Kenntnisse über Ästhetik, gefällt.
… und das schöne, nicht existente Gesicht
«Bei menschlichen Gesichtern lässt sich das schön zeigen», so Psychologe Kersten: Mittels Computertechnik können beliebig viele Gesichter übereinander gelegt werden, es entstehen neue, sogenannt «gemorphte» Bilder. Das Endprodukt ist ein nicht existierender Prototyp, der auf die meisten Betrachtenden sehr attraktiv wirkt; vorausgesetzt, man kreiert das Durchschnittsgesicht aus attraktiv eingestuften Gesichtern. Herausgefunden hat die erstaunliche Wirkung gemorphter Gesichter Sir Francis Galton, ein englischer Wissenschaftler im 19. Jahrhundert, als er das typische Verbrechergesicht konstruieren wollte. Aus seinen «Morphings» ging plötzlich ein besonders hübsches Männergesicht hervor…
«Diese Prototypen sind in unserem Gehirn abgespeichert und wir vergleichen sie ständig mit dem, was wir sehen und bilden daraus unser Schönheitsurteil», sagt Bernd Kersten. Diese Prototypen sind «relativ schön», aber durch die Ausprägung individueller Merkmale kann man einen Prototypen gar «übernatürlich schön» machen, ist Kersten sicher, denn die Differenz zum Prototypen sorge für neue Spannung, neue Bedeutungen. Sei dies nun beim menschlichen Gesicht, in der Kunst oder bei der Suche nach der ultimativen Form eines Autos. Fazit der ganzen Geschichte: Über Geschmack lässt sich also nur sehr bedingt streiten.
Weiterführende Informationen
Die Tagung führt Dr. Bernd Kersten mit der Unterstützung des Nachwuchs-Förderungsprojektpools durch.