Einarmiger Bandit raubt selten die Existenz
Blingbling, der Geldautomat blinkt lustig und spuckt klimpernde Münzen aus: Mit dieser Vision im Kopf sitzen zig Spielsüchtige in Las Vegas an den Maschinen. Auch in der Schweiz gibt es die Pechvögel des Glückspiels – aber seltener als angenommen, wie Psychologen der Uni Bern zeigen.
«Rien ne va plus» im wahrsten Sinne: Ein Mann sitzt am Roulettetisch, hebt den Blick kaum einmal, setzt wieder und wieder auf die rollende Kugel, mal auf schwarz, mal auf rot, mal auf die 33 oder 17 und verliert regelmässig seinen Monatslohn in den blinkenden Lichtern des Casinos: Das ist das klischierte Bild, welches die Gesellschaft von einem Spielsüchtigen hat. Eine Studie der Berner Psychologinnen und Psychologen zeichnet aber ein ganz anderes: Erstens verspielen selbst intensiv Spielende kaum ihr ganzes Vermögen, rund 15 Prozent geben monatlich zwischen 50 bis 200 Franken aus, nur einer von über 6000 Befragten setzt regelmässig über 1000 Franken ein. Zweitens: Man trifft Spielsüchtige kaum im Casino an, ja, man trifft sie überhaupt kaum an – gemäss Studie sind in der Schweiz viel weniger Menschen von der Spielsucht betroffen als bisher angenommen wurde.
«Die Häufigkeit, einmal im Leben an dieser Sucht zu erkranken, liegt bei 0,3 Prozent», sagt Psychologin Jeannette Brodbeck. Hochgerechnet auf die Deutschschweiz und den Kanton Tessin sind das insgesamt rund 14’000 Personen.
Nicht das Geld, sondern die Spannung lockt
«Diese Werte liegen deutlich tiefer als eine frühere Schweizer Studie annimmt», so Brodbeck. Die Psychologin begründet diese, vielen aktuellen Medienberichten entgegenstehenden Erkenntnisse mit den strengeren Diagnosekriterien, nach welche ihre Arbeitsgruppe 6385 Frauen und Männer über 14 Jahre in Telefon- und schriftlichen Interviews befragt hat. «Bisher angewandte Befragungsraster zeigten zu viele Spielsüchtige an, nämlich bis zu 50 Prozent falsche Ergebnisse», so Brodbeck; gerade finanzielle Aspekte des pathologischen Spielens seien in früheren Screenings zu sehr gewichtet worden.
Eher als Geld seien Spannung und Erregung die Triebfeder zum zwanghaften Sitzen am einarmigen Banditen. Die Aussicht auf einen Geldgewinn betrachtet die Berner Psychologin als sekundär. Kontrollverlust und Toleranzentwicklung sorgen schliesslich dafür, dass die Betroffenen in die Suchtspirale geraten: Sie setzen immer häufiger und immer höhere Beträge ein, um den Nervenkitzel aufrechtzuerhalten. «Gefährdet sind vor allem Personen mit hoher Impulsivität, mit affektiven Störungen und Angststörungen», so Brodbeck, und – hier hält sich ein gängiges Klischee – Männer sind anfälliger für «pathologisches Pokern» als Frauen.
Geldautomaten sind die grössten Fallen
Die grösste Stimulation für Suchtspieler bieten aber nicht Kartenspiele oder Roulette, sondern die bunt blinkenden und klingelnden Geldautomaten mit folgenden, fatalen Eigenschaften: Hohe Ereignisfrequenz, kurze Auszahlungsintervalle, aktiver Einbezug des Spielers, kleinere Einsatzeinheiten sowie Licht- und Toneffekte. «Diese Tatsache hat 2005 zum Verbot dieser Maschinen ausserhalb von Casinos geführt», so Brodbeck. In den Casinos selber, die seit fünf Jahren ihre Glückspiele in der Schweiz anbieten dürfen, sind gemäss Studie kaum Spielsüchtige anzutreffen. Die Spieltempel setzen auf Präventionskampagnen und können Spielsperren verhängen, die landesweit gelten. «Viele der gefährdeten Personen beantragen gleich selber eine Sperre», so Brodbeck. Solchen Kontrollmechanismen entziehen sich jedoch die Spielangebote über Internet, was Brodbeck als «problematisch» einstuft.
Viel eher alkohol- als spielsüchtig
Welche Botschaft schickt Brodbeck den Schweizerischen Präventions- und Beratungsstellen für Spielsucht? «Die bisherige Linie beibehalten. Vielleicht hat ja gerade die öffentliche Sensibilisierung für die Problematik zu den geringen aktuellen Prävalenzen beigetragen.» Grundsätzlich dürfe aber klar gesagt werden, dass die Spielsucht mit einer Jahresprävalenz von 0.02 Prozent eine eher seltene psychische Störung ist und die Wahrscheinlichkeit, in eine schwere Depression zu fallen oder alkoholabhängig zu werden bei einer Jahresprävalenz von 6,9 beziehungsweise 2,4 Prozent deutlich höher ist.
Dennoch ist es besser, vom exzessiven Spielen um Geld die Finger zu lassen. Zu gewinnen gibt es nämlich meist nicht viel: Von den 6500 befragten Personen gaben nur 33 Personen an, jemals über 10’000 Franken gewonnen zu haben.
Zahlen aus der Studie
bj. Im Monat vor der Befragung nutzte ein Drittel der Deutschschweizer und Tessiner mindestens ein Glücksspielangebot. Fast alle dieser Personen spielten Lotto, Toto oder kauften Lose. An zweiter Stelle stehen SMS- oder TV-Gewinnspiele. Nur gut jeder Hundertste besuchte in dieser Zeitspanne ein Casino. Die Mehrheit der Spielenden gab insgesamt pro Monat weniger als 50 Franken aus, 14,8 Prozent setzten zwischen 50 und 200 Franken ein und nur eine Person gab an, durchschnittlich pro Monat über 1000 Franken zu verspielen.