Der Theologe mit der Schaufel
Graben an heiligen Wassern: Ein internationale Forschergruppe mit Berner Beteiligung ist am See Genezareth auf der Suche nach einer antiken Stadt. Studierende sind aufgerufen, mitzugraben.
«Wir graben eine Stadt aus.» Stefan Münger von der Christkatholischen und Evangelischen Theologischen Fakultät der Uni Bern lacht über die eigenen «grossen» Worte. Und doch ist es wahr: Seit rund zehn Jahren zieht der Theologe mit archäologischer Weiterbildung jeden Sommer mit Wissenschaftskollegen aus Finnland, Holland und Deutschland an den See Genezareth in Israel und schaufelt sich Kubikmeter um Kubikmeter durch die Erde. Unter dem Hügel versteckt sich die Stadt Kinneret – «eine der grössten in dieser Gegend zur Zeit von König David um 1000 vor Christus», so Münger. Im Vergleich dazu sei Jerusalem damals lediglich ein «Bergdorf» gewesen. Im August macht sich die Truppe wieder mit rund 50 Studierenden auf die Suche nach uralten Puzzle-Teilchen an heiligen Ufern – jetzt sucht der Ko-Leiter des internationalen Grabungsprojekts Freiwillige (siehe Kasten), die mitanpacken.
Schicht um Schicht kommen die Gräber der antiken Stadt Kinneret auf die Spur. (Bilder:zvg)
Nicht aus religiösen Gründen
«Wir suchen nicht nach der Bestätigung biblischer Aussagen», so Stefan Münger – obwohl seine Verbindung zur Theologie einen religiösen Anspruch vermuten liesse: «Wir wollen vielmehr eine Stadt in ihrer Funktion, ihren sozialen Strukturen, ihren wirtschaftlichen Eigenschaften verstehen und kulturgeschichtlich einordnen.» Und die Ergebnisse des jahrelangen intensiven Forschens lassen spannende Folgerungen zu: «Die unzähligen Fundstücke belegen zum Beispiel die Internationalität von Kinneret, das 2500 Einwohner zählte», so der Wissenschaftler. In der Erde wurden ein ägyptisches Gewichtsmass, ebenso Überreste des Nilbarschs gefunden, der offenbar 400 Kilometer über Land in den Norden des heutigen Israels transportiert worden war. Eine Schafsgattung konnte einem syrischen Ursprung zugeordnet werden und viel Keramik stammte aus dem heutigen Libanon.
Ein Stück einer ägyptischen Stele – gefunden in Kinneret im heutigen Israel.
«Palästina war Brückenkopf zwischen den grossen Kulturen Ägyptens und Mesopotamiens», erklärt Stefan Münger – und die Hauptverkehrsachse verlief direkt hinter Kinneret, über einen kleinen Pass nördlich der fruchtbaren Ebene von Ginnosar. Allerdings bezweifelt der Berner Ausgräber, dass sich das Davidische Grossreich damals tatsächlich, wie in der Bibel dargestellt, vom Nil bis an den Euphrat ausdehnte, und dass der König einen so grossen Einfluss genoss wie ihm in den Schriften zugeschrieben wird. «Ich gehe aufgrund der bisher bekannten Herrschaftsverhältnisse nicht von einer derart straffen Staatsorganisation aus», so Münger. So sei Kinneret wahrscheinlich ein Stadtstaat gewesen, der sich selbst organisiert habe. «Die Stadtmauern sind ungewöhnlich gut befestigt, die Infrastruktur wurde überlegt angelegt, was auf eine zentrale Planung hindeutet», so der Experte: Die Elite wohnte auf der Hügelkuppe, wo der Wind die üblen Gerüche wegtrug, zum See hin lebte die ärmere Bevölkerung. Gleichzeitig bot die Erhöhung einen guten Schutz in unsicheren Zeiten. «Kinneret war für 150 Jahre das Zentrum der Region», sagt Münger.
Die Archäologie vereint viele Disziplinen
«Wir graben, vermessen, dokumentieren, restaurieren, konservieren.» Stefan Münger zählt die vielfältigen Aufgaben vor Ort und zurück an den Instituten auf. Ein Monat in Kinneret bringt viele Fundstücke, unzählige neue Daten müssen in einer Datenbank erfasst werden. Aufgenommen werden die exakte Lage der Funde, ihre materiellen Eigenschaften, zu deren Bestimmung Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen hinzugezogen werden – Paläobotanikerinnen finden die Art der Pflanzensamen heraus, Anthropologen analysieren Knochenfunde, Geologen bestimmen die Zusammensetzung und somit die Herkunft von Keramik. «Vor Ort befinden sich auch Objektzeichner, Architekten, Fotographen – alle zusammen bilden ein interdisziplinäres Team von rund 25 Experten und 50 Studierenden aus 10 europäischen Ländern», so der Berner Ko-Direktor des Kinneret-Projekts. «Die moderne Archäologie liegt auf den Schultern vieler Fachrichtungen – die Zeit des archäologischen Einzelkämpfers à la Indiana Jones ist vorbei.»
Das harte Schaufeln wird belohnt: Mit einem Sonnenuntergang oder einem Bad im See Genezareth.
Der anstrengende Tag
«Wir stehen um vier Uhr morgens auf und arbeiten bis halb ein Uhr mittags», erklärt der Theologe den straffen Tagesablauf in Kinneret. Ab 15 Uhr stehen für die Studierenden nochmals zwei Stunden Auswertung auf dem Programm, die Experten arbeiten bis in die Abendstunden. Wer mitmachen will, braucht also «viel Begeisterung für Archäologie, eine gute Gesundheit und noch mehr Neugier», so Münger. Neugier darauf, wie das Leben in Kinneret vor 3000 Jahren ausgesehen hat, welchen Göttern gehuldigt wurde, warum die Toten unter dem Stubenboden begraben wurden. Vielleicht gräbt manch einer auch eine zusammengestürzte Mauer aus – und damit vielleicht ein Indiz mehr, dass die Stadt 950 v. Chr. in einem Erdbeben untergegangen war.
Das Projekt am See Genezareth
Das «Kinneret Regional Project» wird von den theologischen Fakultäten von Bern, Helsinki, Leiden /NL und Mainz durchgeführt. Gegraben wird am Nordwestufer des Sees Genezareth seit den 1980er Jahren; die Uni Bern ist seit Mitte der 90er Jahre dabei. Die drei Ko-Direktoren – darunter der Berner Theologe und Palästina-Archäologe Stefan Münger – verfügen über ein jährliches Budget von 60’000 Euro. «Dieses Geld reicht nur, weil wir alle ehrenamtlich arbeiten», so Münger. Unterstützt wird die Forschungsarbeit seitens Bern durch die Hochschulstiftung der Uni. Wer im August freiwillig in Kinneret mitarbeiten will, kann sich bis Ende April bei Stefan Münger melden. Die Reisekosten können nicht übernommen werden und es wird ein Beitrag an die Unterbringungskosten erhoben. Die Exkursion kann in Form von ETCS-Punkten verbucht werden.