Die erste Schweizer Ärztin erklomm steile Berge
Marie Heim-Vögtlin war eine Frau der Taten: Sie öffnete 1874 ihre eigene Praxis, hatte neben Karriere auch Kinder, stieg eifrig zu Berge und sorgte sich um die Hebung der Sittlichkeit. Ein Vortrag in der Uni-Bibliothek über die erste Schweizer Ärztin.
Anfangs lief alles noch genau so, wie eine ordentliche Laufbahn einer Pfarrerstochter im 19. Jahrhundert aussehen sollte: Marie Vögtlin genoss zu Hause den Schulunterricht ihres Vaters, las später Schiller in einem befreundeten Pfarrhaus, erlangte den krönenden Abschluss in Neuenburg an der höheren Schule für junge Damen. Vom ländlichen Aargau in der Stadt Zürich gelandet, erlernte sie die üblichen haushälterischen Fähigkeiten und verlobte sich mit ihrem Cousin Fritz Erismann. Wie Historikerin Verena E. Müller an ihrem Vortrag in der Universitätsbibliothek Bern schilderte, war Marie Vögtlin auf dem besten Weg, Hausfrau zu werden – und nicht die erste Schweizer Ärztin.
Immer auf zum nächsten Gipfel: Marie Heim-Vögtlin mit Sohn und Tochter. (Bild:zvg)
Die erste Schweizer Studentin an der Uni Zürich
Doch dann wurden die Weichen anders gestellt: Der angebetete Erismann verliebte sich in eine russische Medizinstudentin und zog mit dieser von dannen. «Monatelang war Marie Vögtlin liebeskrank», so Müller, bis sich die Pfarrerstochter 1868, gerade mal 23-jährig, entschied: Ich will etwas aus meinem Leben machen, ich studiere Medizin. Dass ihr konservativer Vater diesen damals skandalösen Schritt unterstützte, erfüllte sie mit ausgesprochener Dankbarkeit; in einem Brief schrieb sie gar von einer «heldenhaften Liebestat». Erst mit seiner Unterschrift wurde Marie Vögtlin denn auch an der Uni Zürich, die als erste europäische Hochschule Frauen das reguläre Studium erlaubte, zum Examen zugelassen.
Sie studierte nicht nur wie ein Mann, sie trieb auch Sport wie einer: «Dass die Frauen dieser Zeit nicht alle drei Minuten in Ohnmacht fielen, wie landläufig angenommen wird, beweist folgende Schilderung Marie Vögtlins», so Müller: «Wir gehen auf die Schlittschuhstation und machen dort Experimente», sie wolle das «Eis überwinden», in den letzten drei Stunden sei sie «nur dreimal fürchterlich auf die Hände gefallen».
Erfolgreiche Gynäkologin und Familienfrau
Marie Heim-Vögtlin blieb auf Pionierkurs: Nach der Spezialisierung zur Gynäkologin in Leipzig und Dresden und ihrer Dissertation mit dem Titel «Über den Befund der Genitalien im Wochenbett», eröffnete die erste Schweizer Ärztin kurzerhand eine eigene Praxis in Hottingen an der Zürcher Stadtgrenze. Auch für dieses Unterfangen bedurfte sie abermals der Hilfe ihres Vaters. Ihre Praxis bekam schnell einen guten Ruf, der über Zürich hinaus ging.
Doch die Gynäkologin wollte sich nicht nur ihrem Beruf widmen, und es gelang ihr, schon gegen Ende des 19 Jahrhunderts die Bedürfnisse der heutigen, modernen Frau unter einen Hut zu bringen: nämlich Karriere und Kinder. Sie und ihr Ehemann Albert Heim, ein Geologieprofessor des damaligen Polytechnikums (heute ETH) und berühmter Ballonfahrer, hatten einen Sohn, eine Tochter und eine Pflegekind. Und sie unterhielten gleich zwei Wohnsitze, einen in der Stadt und einen am Zürichberg, «ein Chalet ohne Wasser, Strom und Toilette», wie Müller ausführte. Marie Heim-Vögtlin sei immer eine sehr praktische Frau «ohne grosse Ansprüche an den allgemeinen Komfort» gewesen, so Müller. Sie pflegte zu sagen: «Man kann intelligent sein, unabhängig und trotzdem den Garten selber machen.»
An Tuberkulose gestorben
Flott schritt Marie Heim-Vögtlin auch in ihrem gesellschaftlichen Engagement voran: Sie gründete die Schweizerische Pflegerinnenschule, war in der Abstinenzbewegung aktiv und sorgte sogar für eine «Hebung der Sittlichkeit», in dem sie versuchte, die Prostituierten von der Strasse zu holen. «Bei ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen genoss Marie Heim-Vögtlin den Ruf eines Vorbildes», sagt Historikerin Müller. Erst die 1968-er Generation rückte die Pionierin in ein anderes Licht und stiess sich daran, dass die Ärztin eher private Wohltätigkeit betrieben habe statt eine gerechtere Weltordnung zu fordern.
Heute ist die erste Schweizer Ärztin, welche 1916 an Tuberkulose starb, besonders im Kreise der Wissenschaftlerinnen bekannt: Ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds ist nach ihr benannt. Mit diesen Fördergeldern werden Forscherinnen unterstützt, deren Karriere sich wegen familiärer Umstände verzögert.