Nähen bis nach Mitternacht

Sie ist unsichtbar, kaum anerkannt und äusserst schlecht bezahlt: Heimarbeit ist in Lateinamerika oft die einzige Chance zum Überleben. Eine Ausstellung an der Unitobler zeigt, wer die T-Shirts näht, die wir tragen.

Von Bettina Jakob 26. April 2007

Belindas Tag beginnt um sechs Uhr morgens, sie bringt einen Sohn in den Kindergarten, den anderen in die Schule, kocht für den Mann, einen Busfahrer, holt die Söhne wieder ab, hilft bei den Hausaufgaben, kocht erneut, schickt die Kinder ins Bett. Ein «normaler» Tag einer Familienfrau. Doch Belinda arbeitet auch zwischen diesen Arbeiten: Sie stickt Perlen und Pailletten an T-Shirts. Und zwar von morgens bis abends und länger: «Wenn es viele Aufträge gibt, muss ich eben bis in die Morgenstunden nähen, manchmal schlafe ich gar nicht.» Das erzählte die Peruanerin aus Lima der Berner Studentin der Sozialanthropologie, Ursina Roder, die mit zwei Ethnologinnen aus Berlin und Leipzig 2006 vor Ort ein Forschungsprojekt über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Heimarbeiterinnen durchführte. Heute beginnt am Institut für Sozialanthropologie der Uni Bern die Fotoausstellung über Heimarbeit in Peru.

Foto einer Heimarbeiterin mit Kindern in ihrem Zuhause in Lima
Den eigenen Alltag mit der Einwegkamera festgehalten: Eine Heimarbeiterin mit ihren Kindern in Lima. Bilder: Zvg

Müllrecyclerin, Schuhputzer, Heimarbeiterin

«Die 23 befragten Frauen haben sich und ihren Alltag mit Einwegkameras selber fotografiert», erklärt Ursina Roder. Die 30 ausgestellten Bilder sollen den Alltag der Heimarbeiterinnen in der peruanischen Hauptstadt widerspiegeln und Heimarbeit in Lateinamerika sichtbar machen. Die Heimarbeit gehört zum so genannten informellen Sektor, zu jenen Tätigkeiten, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen: nicht registrierte Beschäftigung, ungeregelte Arbeitszeiten, unsicheres Einkommen und fehlende soziale Absicherung. Vor allem in den Städten Lateinamerikas arbeiten Frauen, Männer und Kinder in diesem Bereich, zum Beispiel als Müllrecyclerin, Strassenverkäuferin, Taxifahrer, Schuhputzer, Heimarbeiterin. Aufgrund ökonomischer Krisen nehmen seit den 1970er Jahren diese Tätigkeiten zu, und immer mehr Menschen überleben nur dank solcher staatlich nicht regulierter Arbeit.

Das letzte Glied einer langen Kette

Die Frauen stellen die Mehrheit im informellen Sektor. Die drei Forscherinnen aus Bern, Berlin und Leipzig erklären, dass Frauen durch soziokulturelle, religiöse und rechtliche Barrieren oft schlechtere Chancen hätten, eine Arbeit im formellen, geregelten Sektor zu finden – und schliesslich in der Heimarbeit landen. Die Heimarbeiten sind leistungsabhängig, aber vertraglich nicht gesichert und werden zu Hause ausgeführt. Oft kommen die Aufträge von Textilfirmen und die Frauen werden pro genähtes T-Shirt bezahlt. «Die Heimarbeiterinnen sind die letzten Glieder einer langen Produktionskette», schreiben die Forscherinnen, «und verdienen entsprechend am wenigsten»: Belinda und ihre Kolleginnen hätten keine Ahnung, zu welchen Preisen die fertigen Produkte gehandelt werden, und welche Entschädigung adäquat für ihre Leistung wäre. Oft lägen die Stundenansätze weniger als 4 Rappen oder die Näherinnen würden gar um ihren Lohn geprellt – ohne das Recht, diesen einzufordern.

Foto einer Marktfahrerin beim Schöpfen des Essens
Kein gesichertes Einkommen – Marktfahrerin in Peru.

Gegen Zwischenhandel und Ausbeutung

«Die Heimarbeit muss sichtbar werden», sagt Ursina Roder, «erst dann können die Bedingungen überhaupt besser werden.» Die drei Feldforscherinnen empfehlen Heimarbeiterinnen, sich zusammen zu schliessen, damit sie Forderungen durchsetzen, Zwischenhandel und Ausbeutung unterbinden können. Aber erst muss der Schritt an die Öffentlichkeit erfolgen. Die Gesellschaft solle sehen, wer still in der Nacht ihre Kleider nähe, so Ursina Roder: Zum Beispiel jetzt an der Unitobler in Bern. 

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