Das Buch, das als Schreibblock dient
«In jeder Hand der Reclam-Band.» So warb der Reclam-Verlag in den 1920er Jahren. Und tatsächlich ist der Erfolg der gelben Bändchen bis heute durchschlagend – wie die aktuelle Ausstellung in der Universitätsbibliothek an der Münstergasse zeigt.
Ein Blick in die Glasvitrine genügt, und schon ist man in die gute alte Gymerzeit zurückversetzt: Mitten in die Deutschstunde, auf dem Pult liegt das Büchlein, Joseph von Eichendorffs «Taugenichts». Der taugt nicht viel, schläfrig ver(un)ziert man das leere, sonnengelbe Titelblatt, hier eine Karikatur des Lehrers, dort eine kleine Botschaft an die Pultnachbarin… Ein paar solcher reich bemalter und verkritzelter Reclam-Büchlein liegen nun in der Universitätsbibliothek Bern, die ab heute zur Ausstellung «Reclam – Die Kunst der Verbreitung» lädt. Der Frankfurter Antiquar Georg Ewald präsentiert seine Sammlung von Reclam-Bändchen mit vielen Raritäten.
Malstunde im Deutschunterricht: Schillers «Tell» wurde mit ganz persönlicher Note illustriert. (Bilder:zvg)
Lesestoff zu günstigem Preis
«Das Einzelbüchlein an sich ist uninteressant, umso spannender ist aber die Geschichte von Reclam», sagt Georg Ewald. Ganze Generationen von Lesern wurden durch die kleinen Bücher mit grosser Literatur vertraut gemacht – ob sich als Schüler durchkämpfend, sich als Reisende unterhaltend, sich als Soldat im Krieg ablenkend. Die Reclam-Bändchen sind omnipräsent und bieten Universal-Lesestoff zu «erschwinglichen Preisen», wie Ewald sagt.
Die Erfolgsstory beginnt 1828, als Anton Philipp Reclam den gleichnamigen Verlag gründete. Bald wurden in der eigenen Druckerei erste Stereotypen gedruckt: Verschiedene Shakespeare-Werke bekamen das gleiche Format. 1867 entstand das erste Produkt der Reclam-Universalbibliothek: Es war Goethes Faust, Teil I, im Silber-Futteral. Von 5000 Exemplaren existieren heute noch zwei, eines ist in der Berner Ausstellung zu besichtigen.
Die exklusive Werbung
Gelb waren die ersten Reclam-Exemplare nicht, die 20-Pfennig-Bändchen waren elfenbeinfarben. «Doch Reclam hat noch viele andere Gesichter», betont Georg Ewald und zeigt auf die vielgestaltigen Büchlein. Durch hübsche Verpackung versuchte der Verlag alsbald, neue Kundschaft zu gewinnen: Der Buchtitel wurde mit Ornamenten im Jugendstil verziert, als Buchdeckel wurden Halbpergament oder Leder verarbeitet, währenddessen die Zeilen immer noch auf günstiges Papier gedruckt wurden, damit das Produkt erschwinglich blieb. «Farbige Buchumschläge sollten das Schaufenster attraktiver machen», so Ewald. «Reclam hatte schon immer eine sehr kreative Werbeabteilung.»
Ab 1912 stellte der Verlag an Bahnhöfen, auf Schiffen und in Hotels gar Automaten auf und schon war für wenige Münzen Lesestoff zu beziehen wie es heute Zigaretten oder Kaugummi sind. Eine weitere durchschlagende Vertriebsidee war die «Tragbare Feldbücherei» im Ersten Weltkrieg: In einer Schachtel wurden hundert Bändchen zur Unterhaltung an die Front geschickt – «eine Auswahl guter Bücher für Schützengraben und Standquartier», war mit grossen schwarzen Lettern auf die Kiste gedruckt. Für Familien wurde die illustrierte Zeitschrift «Reclams Universum» herausgegeben – mit Fortsetzungsgeschichten, die den Absatz ankurbelten. Der Erfolg der Reclam-Strategie war nicht zu bremsen, schon gar nicht durch Konkurrenten; spätestens 1930 war keiner mehr auf dem Markt.
Anstelle von Süssigkeiten und Zigaretten gabs Lesestoff aus dem Automaten.
Mit Reclam getarnt
Das bekannte Reclam-Design wurde aber auch missbraucht: Politische Gruppen tarnten ihre einschlägigen Schriften – wie zum Beispiel «Ein Volksgenosse antwortet Dr. Goebbels» – mit Reclam-Umschlägen. «Der Verlag selber hat sich aber immer aus dem Krieg herausgehalten», so Ewald. Auch die Alliierten warfen unter Reclams Deckmantel Aufrufe ab – etwa mit Anleitungen, wie eine Krankheit vorzutäuschen sei. Heute findet der Missbrauch nur mehr im Schulzimmer statt, wenn das gelbe Bändchen als Schreibblock dient – «Lebensspuren» nennt Georg Ewald die Kritzelei. So steht auf Schillers «Wilhelm Tell», gekauft für 5.80 Franken und nun in der Vitrine der Uni-Bibliothek, doch das folgende: «So ein Blödsinn. Was sich der Schiller da gedacht hat, du meine Güte.»
Die Ausstellung
Die Reclam-Sammlung von Georg Ewald wird erstmals in der Schweiz gezeigt, nachdem sie im vergangenen Jahr im Klingspor Museum in Offenbach am Main zu sehen war und im nächsten Jahr in die Deutsche Nationalbibliothek Leipzig weiterwandert. Dass die Ausstellung in Bern in das Jahr des 200. Geburtstags des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam (1807-1896) fällt, ist ein schöner Zufall. Zur Ausstellung liegt ein Reclam-Sonderband vor: Reclam. Die Kunst der Verbreitung. Begleitband zur Ausstellung im Klingspor Museum, 22. Februar bis 2. April 2006, Stuttgart: Reclam, 2006.