Das Monster in mir

Monster spuken seit Menschengedenken durch die Welt. Sie sind mal weit, mal nah. Der Berner Sozialanthropologe Michael Toggweiler sucht nach dem (Un-)Sinn dieser unheimlichen Wesen, die der Mensch immer wieder inszeniert? Eine Antwort: Sie helfen uns.

Von Bettina Jakob 18. September 2008

Sie lauern. Dort, wo die Erde aufhört, im Niemandsland, wo auf der Landkarte weisse Flecken liegen. Bereits in der Antike wurden Weltkarten gezeichnet, die genau abbildeten, wo sie sich befinden: die wilden einäugigen Arimaspen, die kopflosen Blemmyer, die mundlosen Astomen, die nur von Gerüchen leben, die hundsköpfigen Kynokephalen mit ihrem dunklen Bellen. All diese grausigen Monster sollen von erschrockenen Menschen gesichtet worden sein, welche sich zu weit an den Rand der Welt gewagt haben, die Begegnungen wurden in unzähligen frühzeitlichen Reiseberichten aufgezeichnet. Damals war die Existenz solcher Gräuelwesen kaum bestritten, und es war klar: Sie sitzen an den Orten, die weit von den europäischen Zentren entfernt liegen. Heute sind praktisch alle Winkel des Globus erforscht - und dennoch tauchen die Monster immer noch auf. Michael Toggweiler, Sozialanthropologe an der Uni Bern, weiss warum: «Wir brauchen sie.» Soeben ist seine «Kleine Phänomenologie der Monster» in der Schriftenreihe seines Instituts erschienen.

Monster an der Notre-Dame
Scheinbar bereit, jemanden anzuspringen: Ein kleines Monster an der Notre-Dame in Paris. Bild: istock

Das Eine vom Anderen abgrenzen

Sie sind also mitten unter uns. Die Monster streunen durch Kino-Blockbuster wie «Harry Potter», «Shrek» und «Lord of the Rings». Äugen durch unsere Strassen wie die grotesken Wasserspeier am Berner Münster, fauchen vom Familienwappen. Michael Toggweiler nähert sich den Gründen für die Jahrhunderte überdauernde Omnipräsenz dieser zunächst unmenschlich erscheinenden Wesen, welche von der Wissenschaft längst als inexistent erklärt wurden. «Monster sind zwar Hirngespinste», meint Toggweiler, «aber gleichzeitig sind sie auch wichtig, nämlich dann, wenn sie als mythische Zeichen dem Verständnis von Welt und uns selbst dienen». Der Sozialanthropologe geht davon aus, dass in einem Denksystem bestimmte Faktoren einander bedingen, um «das Eine von dem Anderen» abzugrenzen.

Hinter dem Horizont wirds gefährlich

«Identität schaffen durch die Inszenierung von Alterität», fasst Toggweiler zusammen, und fügt ein Bild an: Das gesellschaftliche Leben spielt sich innerhalb eines gewissen Horizontes ab. An dieser Grenze stehen Vorstellungen oder Phantasien, die nicht mit Konventionen einhergehen, wo möglicherweise Tabus gebrochen werden. «Und genau an dieser Stelle stehen die Monster – in unzähligen Überlieferungen vieler Gesellschaften – als Mahnmal und gleichzeitig Verlockung, die sagen: Ab hier ist vieles möglich, ab hier gelten andere Regeln», so Toggweiler. Aber Vorsicht: Mit dem Überschreiten der Grenzen ist mit Konsequenzen zu rechnen: «In den mittelalterlichen Reiseberichten, aber auch in den neuen Science-Fiction-Filmen, werden die Grenzüberschreitenden oft verschlungen oder sie verwandeln sich selber in ein Monster.»

Sozialanthropologe Toggweiler ist – mit einem Seitenblick zur Psychologie – sicher: «Monster lassen uns bewusst werden, wer wir sind, weil wir uns durch ihr Bild von dem distanzieren können, was wir nicht sind, nicht sein wollen oder aber insgeheim vielleicht sein möchten.» Nach einer Karnevalsnacht im Monsterkostüm wisse so manch einer am nächsten Tag wieder besser, wer er sei.

Monster von Loch Ness
Ein modernes Monster: Das Ungeheuer von Loch Ness. Bild: istock

Man nehme einen Affen und mache ihn grösser

Die Monster sind denn auch mit uns durch die Zeit gewandert. Und sie haben ihre (Un-)Form behalten. «Als Ausgangspunkt für die Monsterdarstellungen dient nach wie vor der menschliche und der tierische Körper», so Michael Toggweiler. Wiederum naheliegend für den Forscher: «Der Mensch geht immer von sich und seinem Umfeld aus, also schafft er seine Monster aus bekannten Attributen, vermischt sie oder verkleinert und vergrössert sie.» Daraus entstanden sind etwa King Kong oder die hässlichen Orks in «Lord of the Rings». Die Grenzen zwischen Mensch und Unwesen können aber auch diffus werden, denn Monster können sich maskieren wie der Wolf im Schafspelz. Und schlimmstenfalls lauern sie im Menschen selber: «Mit dieser Angst spielt zum Beispiel der Science-Fiction-Film ‹Alien›, in welchem eine Frau einem Alien-Baby als Wirtin dient», so Toggweiler.

Und «Loch Ness»?

Was meint der Sozialanthropologe zu neuen, vielleicht gar «echten»  Monsterwesen wie Nessie und Yeti? «Für uns ist es unwichtig, ob sie effektiv existieren, das mögen die Zoologen untersuchen. Spannend ist, dass die heutigen Menschen diese Wesen immer noch inszenieren.»