Ist Fussball artistischer Krieg?

Die Euro 08 steht vor der Tür. Überbordende Emotionen und euphorisierte Massen sind vorprogrammiert. Der deutsche Kulturtheoretiker Klaus Theweleit ging an der interdisziplinären Ringvorlesung des «Collegium generale» dem Phänomen «Fussball» auf den Grund. Und stösst auf Begriffe wie «Gewaltabfuhr», «Kultort» und «Schönheit».

Von Bettina Jakob 21. Februar 2008

«Der Schrei. Wo im alltäglichen Leben kann man seinen Mund weit aufreissen und einen Schrei herauslassen, der so laut ist, wie man ihn nur schreien kann und so ungehemmt, wie immer man das möchte?» Im Fussballstadion. Klaus Theweleit, Literaturwissenschaftler und Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe näherte sich in einem Referat an der Uni Bern den Hintergründen des Phänomens «Fussball», das Massen euphorisiert. Und er stieg mit einem Steilpass ein – mit einer Verbindung des Fussballs zum kriegerischen Potenzial der Gesellschaft. Industrielle Gesellschaften würden nicht nur Waren wie Strassen und Technologien produzieren, sondern auch Lebensformen und Gefühlslagen, die ihrerseits Gewalt hervorrufen. Und diese Gewalt müsse abgeführt werden, «guter Schlaf sowie das tägliche Entleeren von Darm und Blase» reichen dazu nicht aus: Was früher «Krieg» – sprich Drill und Prügel – erledigten, übernimmt heute «gesellschaftlich organisiert der Sport», so der Germanistiker und Schriftsteller.


Kulturtheoretiker und Ex-Hobby-Fussballer: Klaus Theweleit. (Bilder: Manu Friedrich)

Schreien nicht verboten, sondern erwünscht

Während im 19. Jahrhundert in der soldatisch geprägten Gesellschaft körperliche Gewalt als Erziehungsmassnahme galt, sind heute Übergriffe auf die Körper der Mitmenschen verboten oder zumindest geächtet. Damit hat sich die «Zufuhr von Gewalt in die einzelnen Körper verringert», wie Theweilt folgerte, was aber nicht heisse, dass sie verschwunden sei. «Sie hat sich verwandelt. Aber wird gespürt.» Die moderne Gewalt könne weniger offenkundig als im alten Abfuhrsystem sein, als noch die Fäuste wirbelten; was zum Beispiel «Mobbing» gut illustriere. Und genau deshalb tut es so gut, auf der Tribüne im Fussballstadion so richtig loszuschreien, sei es aus Begeisterung oder aus purer Wut, weil ein Stürmer wieder mal den Torschuss «vergeigt» hat. Für Theweleit ist dies notwendige «Gewaltabfuhr».

«Eingebettet in die kollektive Entladungssituation ist der Schrei besonders wirksam», so der Kulturtheoretiker. Und vor allem: «Nicht nur nicht verboten, sondern ausdrücklich erwünscht.» Selbst ein Aufwallen in einem «Du Arsch, du Blöder!» ist keine unerlaubte, unangemessene Übertretung. «Der Schreiende entlädt sich, aber der Spieler bleibt unversehrt.» Und das Erstaunliche an diesen verbalen Ausfällen: «Man schämt sich nicht, wie man es überall sonst tun würde.»

Allem zu Grunde liegt die Liebe zum Ball

Ist Fussball also eigentlich Krieg, wie der holländischer Trainer Rinus Michels einmal sagte? Eine körperliche Ertüchtigung von verdeckt soldatischen Männern, an der ganze Massen passiv, aber umso emotionaler mitspielen? Klaus Theweleit grenzt Spiel von Krieg ab: durch «Fair Play», den Respekt der Spieler voreinander, die Anwesenheit von Schiedsrichtern. Im Fussball erhalten ausserdem beide Parteien das gleiche Spielgerät, welches nicht zerstört wird, weil ja sonst – gemäss Regeln – das Spiel abgebrochen wird. In Theweleits Augen ist dies ein grundlegender Punkt zu einer friedlichen Lösung: Beide Mannschaften kämpfen, bewusst oder unbewusst, um die Unversehrtheit des Balles. «Am Grunde des Spiels liegt für alle ihre Liebe zum Ball.»

In einem Fussballmatch wird zwar – wie im brutalen Echt-Krieg – um jeden Quadratzentimeter Boden gekämpft, aber die körperliche Unversehrtheit des Gegners soll ebenso bewahrt werden wie die eigene. «Grätscht einer fies von hinten zwischen die Beine, gibt’s die Rote Karte», verweist Theweleit abermals auf die Spielregeln. Um Boden zu gewinnen oder in Ballbesitz zu bleiben, müssen die Spieler also auf artistische Einlagen ausweichen: «Das Vernichtungspotenzial wird permanent in spielerische Techniken umgewandelt», so der Soziologe. Sicher oftmals «hart an der Grenze».

Das Stadion als ehrwürdiger Kultort

Überschreiten dürfen auch die Zuschauenden die Grenzen nicht: Hooligans sind bei den meisten Fans verpönt und sie werden immer erfolgreicher aus dem Stadion verbannt. So bleibt denn anderes auf und rund um den Rasen zurück als vermeintlicher Krieg, nämlich Ästhetik. «Wird ein Spiel auf hohem Niveau geführt, steckt das die Zuschauer an», so Theweleit. Sowohl Gewinner wie Verlierer verwandeln sich von «konkurrenten Einzelwesen in enthusiastische Anhänger von Schönheit». Hier kann auch die TV-Übertragung mit Replay und vielen Kameraperspektiven nichts ausrichten: Ein gemeinsames, ästhetisches Erlebnis macht das Stadion zum Kultort. Gelingt das Werk, macht sich bei Zuschauer und Spieler ein wundersames Gefühl breit: «Die Gewissheit, die Welt um ein Stück Schönheit erweitert zu haben.»

Adolf Ogi zum Sport

Adolf Ogi, Alt-Bundesrat und Ehrendoktor der Uni Bern eröffnete die interdisziplinäre Vorlesungsreihe des «Collegium generale» zur Euro 08. Der ehemalige UNO-Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden betonte in seinem Plädoyer die Wichtigkeit des Sports. «Im Sport dürfen Kinder und Jugendliche Fehler machen, ohne damit ihre berufliche Zukunft zu gefährden.» Sport sei das ideale Übungsfeld, um ohne Druck das Leistungsvermögen zu steigern. Aber auch, um traumatisierte Kinder aus ihrer inneren Isolation herauszuholen. Eine Uno-Resolution soll den Sport in der ganzen Welt als wichtigen Bestandteil in den Gesellschaften verankern und schützen.