«In Bern hat man bezweifelt, ob ich von Nutzen sei»

Der Universalgelehrte Albrecht von Haller hat auch nach 300 Jahren etwas zu sagen. Der berühmte Jubilar spricht über das biedere Bern und kühne Wissenschaft. Und zwar in den Worten, die er wirklich so formuliert hat.

Herr von Haller, reden wir über Ihre Heimat, den Staat Bern.
Albrecht von Haller: Lassen Sie uns an angenehmere Dinge denken, an Gott und an seine Werke, die immer vollkommen sind, die seiner Weisheit folgen und aus seiner Güte hervorgehen. (1)

Wie kommt es, dass Sie über Bern schweigen? In jungen Jahren haben Sie Bern attackiert.
Ich muss  gestehen, dass mich damals jugendlicher Eifer bei den verdorbenen Sitten erhitzt hat. Junge Leute, die die Welt wie ich aus Büchern kannten,  in denen die Laster immer gescholten, die Tugenden immer geehrt, fallen leicht in den Fehler, dass alles, was sie sehen, ihnen unvollkommen und tadelhaft vorkomme. Man darf aber nicht zu viel Vollkommenheit von den Menschen fordern. In einer kleinen Republik wie Bern genügt es, von den grossen Häuptern Menschenliebe, Wissenschaft, Arbeitsamkeit und Gerechtigkeit zu verlangen. Der ungezweifelt blühende Zustand unsers glückseligen Vaterlandes Bern bezeugt, dass die herrschenden Grundlagen seiner Vorgesetzten gut und gemeinnützig sind. (2)

Der junge Alpendichter Albrecht von Haller. (Bild: Ölgemälde 1730 von J. R. Huber)

Erst schweigen Sie über Bern, jetzt loben Sie es über Gebühr. Haben Sie vergessen, dass Bern Ihnen, dem aufstrebenden Universalgelehrten,  einst Anerkennung und Beförderung versagte?
Ach wissen Sie, in Bern haben die einen bezweifelt, ob ich für die Stadt von allgemeinem Nutzen sei. Die anderen, ob ich in meiner Kunst und meiner Forschung zu gebrauchen sei. Die meisten waren nicht eben berührt von meinen Talenten. In Bern bin ich bloss der Sohn eines Sekretärs und der Schwiegersohn eines Kaufmanns. Überdies noch Arzt. (3)

Sie haben die Stadt, die Sie so undankbar behandelte, verlassen und im deutschen Göttingen als Wissenschaftler eine europaweit beachtete Karriere gemacht. Warum kehrten Sie dann doch nach Bern zurück?
Ich habe eine Schwäche für Bern, als wäre Bern eine Frau. (4)

Waren nicht auch Göttingen und der dortige Ruhm anziehend?
Ich hatte in Göttingen ein ehrenhaftes und reiches Einkommen, Gelegenheit und Auftrag für meine Studien, was mir in Bern fehlte. Andererseits habe ich in Bern Verwandte und Freunde und eine liebenswürdige Gesellschaft für mein Leben, wovon in Göttingen nichts ist und auch nichts wurde .(5)

Befriedigt denn Bern Ihren Forscherehrgeiz?
Meine Beschäftigungen in Bern sind weit von den vorigen in Göttingen entfernt und bestehen in dem Dienst an meiner Republik. Ich habe also, meines Glückes wegen, nicht Ursache, Göttingen zu bereuen. (6)

Anatomie des Auges: Aus Hallers « Icones anatomicae» (Bild: Kupferstich von C. F. Fritsch nach Zeichnung von J. Kaltenhofer)

Aber ein wenig vermissen Sie diese Bildungshochburg schon?
In der Tat sehe ich mich in Bern nicht ohne einigen Verdruss von allen meinen Studien getrennt. (6)

Sagen wir es deutlich: Bern ist beamtisch, nüchtern, ohne Sinn für grosse Wissenschaft.
Für gemeine, aber auch für vornehme Leute in Bern ist es eine gewohnte Frage: Wem nützt das?  Was hilft die fleissige Jagd des Forschers nach kleinen Gewächsen und Ungeziefer? (7)

Was antwortet der Naturforscher Haller den Bernern?
Wir Menschen sind auf eine so schöne an so mannigfaltigen Geschöpfen reiche Erde geschickt, dass wir diese und aus denselben die Absichten und die Weisheit des Schöpfers erkennen sollen. Die Insekten nähren uns, weil sie nützliche Vögel nähren. Ebenso ists mit den Moosen, und mit allen Grasarten, die in der Haushaltungs- und Arzneikunst ihren Nutzen haben. (7)

Ich weiss nicht, ob das nüchterne Berner überzeugt, die der Wissenschaft und der hiesigen Universität lieber nicht zu viele Mittel geben. Was sagen Sie denen?
Liebe die Wissenschaften, sie sind zugleich angenehm und nützlich. Sie erhöhen die Seele, sie halten ihr beständig den umstrahlten Kranz vor, den die Verehrung der Welt der Tugend des würdigen Herrschers aufsetzt. Hilf den Wissenschaften auch beim Volke. Niemand ist aufrührerischer als Barbaren. Gesittete Völker aber lassen sich mit einer Schnur lenken, während bei den Barbaren ein Maulkorb  nötig ist. (8)

Man kann dennoch skeptisch fragen, wozu die Wissenschaft aufwändige Projekte lanciert.
Wäre kein Columbus, kein Magellan aus Spanien abgesegelt, so wären viele Schiffbrüche vermieden, aber auch keine neue Welt entdeckt worden. (9)

Blicken wir zurück auf Ihr Leben. Sind Sie glücklich darüber?
Das zeitliche Glück erfordert Aufmerksamkeit und Fleiss, nicht nur in den wichtigen allein, sondern in den geringsten Geschäften. (10)

Hallers Grundlagenwerk zur menschlichen Physiologie, 8 Bde. 1757-1766. (Original am Institut für Medizingeschichte Uni Bern)

Haben Sie Zufriedenheit und Glück auch in den «geringen Geschäften» gefunden?

Ich suche Friede, wo keiner ist: im Gewühl von Büchern, von Arbeiten, von Projekten. Und den Geist, der in mir ist, der ewig bleiben wird – vergesse ich darob. (11)

Ihr Geist, Ihre Genialität, Ihr Denken sind gross. Sie werden weit über Sie hinaus unvergessen bleiben.
Ach, mein Gehirn wird bald ein Stück Erde sein. Ich kann die Vorstellung nur schwer ertragen, dass all die Ideen, die ich durch ein langes Leben angesammelt haben, verloren sein werden wie die Träume eines Kindes. (12)

Nachweis der  Haller-Antworten: 1)  Brief von Haller an C. Bonnet, 18.3.1768; 2) nach J.G. Zimmermann 1755; 3) Brief von Haller an J.R. Sinner, 17.12.1738; 4) Brief von Haller an C. Bonnet, 7.12.1764; 5) Brief von Haller an J. Gessner, 12.9.1739; 6) Brief von Haller an G.T. Asch, 24.7.1753; 7) Haller in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, 1754; 8) Haller 1771, Song; 9) Haller 1751, Nuzen der Hypothesen; 10) Haller 1734, Von den Nachtheilen des Witzes; 11) Hallers Tagebuch, 13.8.1741; 12) Brief von Haller an C. Bonnet, 18.5. 1777.

Erschienen: im «Zeitpunkt» der Berner Zeitung vom 4. Oktober

Albrecht von Haller

Albrecht von Haller ist ein Geistesriese. Der Mann, dessen 300.Geburtstag heuer gefeiert wird, gehörte in eine Ära, in der ein Universalgelehrter fast die ganze Welt des Wissens überblicken konnte. Haller war praktischer Arzt; Anatom, der im Verständnis der Gefässe neue Standards setzte; Physiologe, der erstmals Tierversuche machte; Botaniker, der eine umfassende Flora der Schweiz publizierte; überdies gefeierter Autor von Naturgedichten. Als Haller an der neuen Universität in Göttingen eine Professur antrat, wurde er zum Wissenschaftsstar. Vergeblich bewarb er sich dann um die Stelle des Stadtarztes und eine Professur in Bern. Dennoch kehrte er 1753 nach Bern zurück: Er hoffte auf eine politische Karriere, schaffte es aber nicht in den exklusiven Kleinen Rat. Er bekleidete bloss wenig einträgliche, prosaische Ämter, so wurde er 1758 Direktor der Berner Salzwerke im Waadtland. Immerhin liessen ihm die Ämter Zeit für seine Forschungen und Publikationen, die er bis zu seinem Tod 1777 weitertrieb.

Zu den Autoren

Martin Stuber (martin.stuber@hist.unibe.ch) ist am Historischen Institut der Universität Bern Koordinator des  Nationalfonds-Projekts zur Ökonomischen Gesellschaft Bern und hat zudem an der Uni Bern eine Anstellung zur wissenschaftlichen Begleitung des Jubiläums «Haller 300».  Stefan von Bergen (zeitpunkt@bernerzeitung.ch) ist «Zeitpunkt»-Leiter.