Ist Opfer gleich Opfer?
Den Opfern von Menschenrechtsverletzungen ihre Würde zurückgeben: Durch die Aufdeckung der historischen Wahrheit geschieht Aufklärung, Sinnfindung und vielleicht Heilung. Diese Themen wurden an einer interdisziplinären Konferenz in Bern diskutiert.
Wer bestimmt, wer ein Opfer ist und somit eine Entschädigung erhält? Mit dieser Frage beschäftigte sich Regula Ludi an der internationalen Konferenz «Historical Justice and Historical Truth from the Perspective of the Victims» des Karman Centers. «Hat ein Opfer Unrecht erlitten oder einfach nur Unglück gehabt? Eine drastische Unterscheidung mit weit reichenden Folgen für die Betroffenen», sagt die Berner Historikerin. Die Entschädigungsgesetzgebung der Nachkriegszeit folgte einer zwiespältigen Logik und war problematisch: Verfolgungstatbestände wurden nämlich in Schadenskategorien eingeteilt, und die anspruchsberechtigten Opfer mussten Beweise für ihre Verfolgung liefern. «Eine solch isolierte Betrachtung führt dazu, dass die Verfolgung von Opfern verharmlost wird», betont Ludi, «denn damit wird ihre Geschichte zerstückelt, fehlerhaft und die historische Wahrheit verzerrt – Einzelschicksale lösen sich in abstrakte Schadenstatbestände auf».

Geschichte – eine Frage der Interpretation
Regula Ludi referierte darüber, welches Anrecht NS-Opfer auf welche Entschädigungen haben. Die Historikerin weist darauf hin, dass die Opferperspektive bei der Entschädigungsfrage Schwierigkeiten birgt: «Neben den Juden lassen sich weitere Opfergruppen anführen, die nicht in das rassisch-politisch-religiöse Schema der Entschädigungsgesetze passen und deshalb marginalisiert worden sind: Erbkranke, Homosexuelle, Prostituierte, Pazifisten oder Zeugen Jehovas. Die Beurteilung der Verfolgungsgründe sowie die Formen der Verfolgung erweisen sich als schwierig und vielfältig. In Deutschland gehörten vor allem Roma, Sinti, Behinderte und «Asoziale» zu einer Kategorie, die kein Anrecht auf Entschädigung hatte, und nie mit den so genannten «wahren» Opfern, den Juden, gleichgestellt wurden. Erst in den 1980er Jahren erhielten die «vergessenen Opfer» eine materielle Entschädigung, jedoch noch keine Gleichstellung. Die Schweiz schloss sich gemäss Ludi damals Deutschland an, wenn es darum ging, Opfer zu kategorisieren und stigmatisieren. «Das hat zur Folge, dass die Verfolgungsgeschichte dieser Opfer ignoriert wird, und sie nicht als Opfer gelten», so Ludi.
Fehlerhafte Bürokratien
Für den Untersuchungszeitrahmen 1940er bis 1950er Jahre zeigte sich, dass in Deutschland, Frankreich und der Schweiz die Anträge der Opfer von Menschenrechtsverletzungen an bürokratische Verfahren gekoppelt waren. In der Schweiz war während der Nachkriegszeit das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten zuständig. Eine Kommission des EDA untersuchte die Klagen von Einzelpersonen. Viele Opfer haben Kritik an den Behörden geübt, diese hätten bewusst die falschen Quellen benutzt, mit der Folge, dass viele Verfolgte keine oder reduzierte Leistungen erhielten. «Dokumente aus der NS-Zeit wurden oftmals unkritisch übernommen», erklärt Ludi. «Beispielsweise verwendeten die Entschädigungsbehörden in Frankreich Polizei- und Gerichtsakten des Vichy-Régimes, um Entschädigungsanträge zu prüfen, und übernahmen so die Sicht der Verfolger. Dabei erlitten viele Opfer eine Wiederholung ihrer Verfolgung.
In Deutschland war die Situation für viele Opfer nicht besser: Roma und Sinti wurden unter dem Nazi-Regime häufig wegen ihrer angeblich kriminellen Veranlagung verfolgt. In der Nachkriegszeit dienten die Akten der Strafverfolgungsbehörden aber wiederum dazu, die Entschädigungsanträge von Roma und Sinti abzulehnen, da Kriminelle und Vorbestrafte kein Recht auf Entschädigung hatten. Die opferzentrierte Perspektive ist also nicht unproblematisch: «Durch die Entscheidung, welche Opfergruppen unterstützt werden und welche nicht, finden stets Ausgrenzungen statt, mit der Folge, dass die davon Betroffenen subjektiv neues Unrecht erleiden», betont Ludi.

Medaille nur für «bessere» Opfer
Interessanterweise erstellten auch Betroffene selber Opferhierarchien. Widerstandskämpfer in den von NS-Deutschland besetzten Gebieten, beispielsweise Résistance-Angehörige in Frankreich, oder Mitglieder der Antifaschistischen Komitees in Deutschland, gehörten nach Kriegsende zur treibenden Kraft in der Entschädigungspolitik. Diese Gruppen waren davon überzeugt, dass sie ein Opfer für ihr Vaterland erbracht hatten und demnach nicht mit den anderen Geschädigten gleichzustellen waren. «Die Entschädigungsgesetzgebung sicherte ihnen höhere Leistungen zu und stellte ihnen spezielle Medaillen in Aussicht», so die Berner Historikerin Ludi. Andere Opfergruppen, beispielsweise die Juden, wurden hingegen einer weniger angesehenen Opferkategorie zugeteilt – und diskriminiert.
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Infos zur Konferenz
nan. Prof. Dr. Marina Cattaruzza, Dr. Regula Ludi und Prof. Dr. Lukas Meyer haben die internationale Konferenz zum Thema «Historical Justice and Historical Truth from the Perspective of the Victims», welche vom 28. bis 30. August 2008 stattfand, organisiert. Die Tagung bildet den Abschluss eines dem Karman Center angeschlossenen Projektes zum Thema «Historical Justice and Historical Truth». Die Konferenz wurde vom SNF und dem Beer-Brawand Fonds unterstützt.