Wissenschaft wie im Wilden Westen
Waghalsig, revolutionär, morbid: So sind einige Experimente aus der Forschungsgeschichte, wie Reto U. Schneider beweist. Der stellvertretende Redaktionsleiter des «NZZ-Folios» trug am chemischen Institut der Uni Bern einige Beispiele aus seinem «Buch der verrückten Experimente» vor.
Es war einmal ein junger Medizinprofessor an der Uni Bern. An einem Dezembertag im Jahre 1874 lud er zum Versuch der besonderen Art: Im Schiessstand des Direktors der Psychiatrischen Klinik Waldau zielte er mit seinem Gewehr auf eine mit Sand gefüllte Schweineblase und auf zwei Leichen, die eng mit Tüchern umwickelt waren. Später kamen noch Menschenschädel gefüllt mit Kartoffelbrei als Zielscheiben dazu. Über das Experiment des Theodor Kocher war damals im «Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte» zu lesen, und kürzlich in einer Kolumne des «NZZ Folios»: Reto U. Schneider, der stellvertretende Redaktionsleiter, erläuterte, wie heutzutage viele Soldaten dem seltsamen Experiment Kochers ihr Leben verdanken. Auf dieser Grundlage wurden schliesslich Geschosse entwickelt, die den menschlichen Körper nicht zerfetzen, sondern ohne grossen Schaden durchdringen, den Gegner jedoch trotzdem ausser Gefecht setzen. Noch heute wird in der Ballistik an der Uni Bern Munition auf ihre Wirkung gestestet – geschossen wird jetzt allerdings auf Seifenblöcke.

Theodor Kocher (sitzend mit schwarzem Hut) bei Schiessversuchen des Militäroperationskurses in Thun, Juli 1904. (Bild: Original im Institut für Medizingeschichte, Uni Bern)
Aussergewöhnliche Experimente wie Kochers Schiessübungen faszinieren den Wissenschaftsjournalisten Schneider – er hat sie in einem Buch gesammelt und trug am chemischen Institut ein paar Kostproben daraus vor. Organisiert wurde der Anlass von der Berner Chemischen Gesellschaft.
Grosse Fragen, gefährliche Experimente
Da war zum Beispiel Pierre Barbet. Der französische Gerichtsmediziner wollte in den 1940er Jahren wissen, ob Jesus tatsächlich am Kreuz gestorben war und machte sich eifrig an die Erforschung der Kreuzigung: Er bewies unter anderem in Versuchen mit Leichen, dass es möglich war, einen Menschen tatsächlich mit drei Nägeln an einem Holzkreuz zu befestigen, ohne dass das Eigengewicht den Körper herunterriss. Morbiden Tatsachen war auch Nicolas Minovici auf der Spur: Er testete am eigenen Leib, was ein Mensch beim Erhängen empfindet. Insgesamt erhängte sich der rumänische Forensiker zwölf Mal für einige Sekunden und publizierte seine Todes-Erfahrungen 1905 in einem über 200-seitigen Aufsatz.
Der esoterische Isolationstank
Beinahe wie von Sinnen war auch der amerikanische Neurophysiologe John Lilly – jedenfalls versuchte er dies zu erreichen: Mutig legte er sich im Selbstversuch stundenlang in die vollständige Dunkelheit. Treibend in einem eigens dazu entwickelten Wassertank, koppelte er sich von allen sensorischen Empfindungen ab. Die zu Grunde liegende Frage dieses Experimentes war: Was geht im menschlichen Gehirn vor sich, wenn die fünf Sinne keine Reize mehr hinauf schicken. Halluzinationen waren das Resultat, und eine unglaubliche Entspannung: Zwei Stunden im Tank entsprachen gemäss seinen Aufzeichnungen «etwa dem Erholungswert von acht Stunden Schlaf im Bett, wobei diese Stunden nicht einmal schlafend verbracht werden mussten». Als Samadhi-Tank und besondere Anti-Stress-Methode fand das Isolationsbecken Eingang in die esoterische Bewegung.
Böse Barmherzigkeit
Reto U. Schneider gibt zu: «Ich mag diese Experimente – nicht unbedingt aber die Resultate.» So etwa die Erkenntnis aus einem Test, der in den 1970er Jahren von der «Stanford University» durchgeführt wurde. Theologiestudenten wurden zu einem bestimmten Gebäude geschickt, um dort die biblische Geschichte des barmherzigen Samariters zu erzählen; der Kontrollgruppe wurde eine Geschichte ohne mitfühlenden Inhalt in Auftrag gegeben. Im Hauseingang des Gebäudes lag – von den Forschenden gestellt – ein regloser Mann. «Kaum eine der Testpersonen sprach die bedürftige Person an», fasst Schneider zusammen: Weder die Kontrollgruppe, noch die Studierenden, die sich vorher mit Barmherzigkeit auseinander setzen mussten.
«Das Buch der verrückten Experimente» lautet denn auch der Buchtitel von Reto U. Schneiders Sammlung. Und bereits trägt er Kuriositäten für eine zweite Publikation zusammen. Wie er verrät, soll auch die Uni Bern wieder Eingang finden…