Er hat ein Auge fürs Auge

Der Pinsel ist sein wichtigster Begleiter, der scharfe Blick sein wichtigstes Gut: Willi R. Hess ist naturwissenschaftlicher Zeichner am Institut für Medizinische Lehre an der Uni Bern.

Von Bettina Jakob 23. Januar 2008

Auge um Auge. So hat alles begonnen, damals 1963. Willi R. Hess kam von Zürich ans Inselspital Bern und absolvierte ein Praktikum an der Augenklinik. Er assistierte den Ärzten, allerdings nicht mit Skalpell bewaffnet, sondern mit Bleistift und Aquarellpinsel. Willi Hess ist naturwissenschaftlicher Zeichner. Es folgte Zeichnung um Zeichnung von Netzhautablösungen, Hornhautverkrümmungen, von Augenlid-Operationen, bei denen die Ophthamologen ein «neues Sklera-Band an der Knorpelplatte fixierten, um das Lid zu heben», wie Willi Hess im Fachjargon eines Mediziners erklärt, mit dem Zeigfinger auf eine der Bleistift-Zeichnungen deutend. «Anatomie bekommt man unweigerlich mit über all die Jahre», sagt Hess schmunzelnd. Der Zürcher blieb schliesslich in Bern. Im März wird er pensioniert – nach fast 45 Jahren an der Insel.


Willi Hess mit seinem neuesten Werk: Für die Zeichnungen zur Blasenentnahme war er bei der Operation dabei. (Bild:bj)

Geduld ist gefragt

Seine hellen Augen blicken direkt, erzählen gleich selbst, was es zum guten Zeichner braucht: genaues Beobachten. Sicherlich, ja, auch Talent, sagt Willi Hess langsam nickend. Schon als Junge wurde er vom Lehrer gebeten, für ihn die Zeichnungen an der Wandtafel zu übernehmen. Es folgte die dreijährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule zum naturwissenschaftlichen Zeichner; was für ihn mehr wurde als einfach ein Beruf. «Und ja, irgendwie ist es wohl auch Kunst», meint er nach reichlichem Überlegen. Seine Antworten eilen nicht, Geduld ist eine weitere Eigenschaft, die ein Zeichner mitbringen sollte: «Ein einziges Bild kann ohne weiteres eine ganze Woche in Anspruch nehmen.» Manchmal sitzt Willi Hess auch am Wochenende mit dem Pinsel, seinem wichtigsten Begleiter, vor dem Papier.

Mit einem neuen Skleraband wird das Augenlid fixiert. (Zeichnung:Willi Hess)

Den Chirurgen über die Schulter schauen

Äugt man kurz durch den Raum, ist unverkennbar, dass es sich vielmehr um ein Atelier denn um ein Büro handelt: Wilde Pflanzen in Töpfen wuchern auf dem alten Fenstersims des Sahlihauses, an der Wand hängt neben Postkarten ein überdimensionales Plakat mit einer Farbpalette, auf dem riesigen Tisch vor der Fensterfront sind Schreibgeräte aller Art verstreut, und da liegt auch das neueste Werk – innere Organe in Aquarell: «Eine Zystektomie», sagt Willi Hess. Rund 20 Abbildungen aus Hess’ Hand sollen die richtige Entnahme einer tumorösen Blase dokumentieren.
Hess kommt ins Plaudern: Wichtig dabei sei, dass beim Rausschneiden die Nervenbahnen zur Beckenbodenmuskulatur nicht durchtrennt würden, da der Muskel sonst die neue künstliche Blase nicht richtig schliessen könne. Die Zeichnungsserie soll die korrekte Führung der Instrumente während der Operation Schritt für Schritt anleiten. Klar, dass Willi Hess den Chirurgen im OP über die Schulter sehen musste, um diesen Ablauf präzise wiedergeben zu können. Unzählige Unterleibs-Längsschnitte zeichnen, das langweilt Willi Hess nicht. «Irgendetwas ist immer wieder anders.»

Blick ins Augeninnere: Biomikroskopische Zeichnung des Netzhautrandes. (Zeichnung: Willi Hess)

Anatomisches Wissen gleich mitgeliefert

Zeichnungen soweit das Auge reicht, tausende von Abbildungen entstammen Hess’ Pinsel. Ganze wissenschaftliche Bücher hat er illustriert, etwa ein Standardwerk über die Biomikroskopie der vorderen Augenabschnitte, das sogar ins Japanische übersetzt wurde, und einen Wälzer mit zahllosen Skizzen zerebraler Gefässe. Früher hat Hess Tonbildschauen zusammengestellt, die den Medizin-Studierenden als Lerngrundlage dienten. So etwa den Ablauf einer gynäkologischen Routine-Untersuchung mit Skizzen möglicher Krankheitsbilder. Oder die Geburt eines Kindes. An seinen schematischen Illustrationen erklärt der Medizinalzeichner, wie sich das Baby im Geburtsgang drehen muss, «zuerst rechts, dann links und wieder zurück», damit Kopf und Schulter überhaupt durch die engsten Stellen kommen. Mal ist Hess Augenspezialist, manchmal weiss er fast soviel wie eine Hebamme. Willi Hess lächelt, fast scheu, und steckt sich eine Bidi an.

Der Zürcher, der ein Berner ist

Sieht ein naturwissenschaftlicher Zeichner die Welt mit anderen Augen? Mag sein. «Man lernt, die Dinge einfacher zu sehen. Das präzise Zeichnen ist eigentlich eine Bereinigung des Komplizierten, eine Reduktion auf das Wesentlichste.» Ansonsten ist der Zürcher mit seinen blonden langen Haaren ein richtiger Berner: Am wichtigsten ist ihm sein fast tägliches Aarebad. Von seiner Wohnung mit Atelier in der Matte marschiert er ins Eichholz, gönnt sich dort einen «Zweier Wein» und schwimmt runter bis ins Marzili.