Ein Leben für die Krabbeltiere

Er hat ein Auge für die kleinen Schönheiten. Im wahrsten Sinne des Wortes: Biologe Jürg Zettel hat seine Karriere der Erforschung der 2 Millimeter grossen, putzigen Schneeflöhe verschrieben. Nun tritt der Insekten-Professor nach 40 Jahren an der Uni Bern vom Flohzirkus ab.

Von Bettina Jakob 24. Juli 2008

«Ich dachte, ich versteh’ die Welt nicht mehr.» Jürg Zettel blickt zum Fenster und seine Gedanken wandern zurück zu jenem Wintertag, in einem Wald nahe Kirchlindach. Auf dem Schnee bewegte sich ein dunkles, über 70 Meter langes Band langsam vorwärts. In dieser überwältigenden Menge hatte Zettel die Tiere noch nie gesehen. Zu Millionen sammeln sie sich, um zusammen über das Schneeweiss zu krabbeln. Diejenigen Tiere, die Zettel danach 20 Jahre lang bis heute beschäftigen sollten: «Schneeflöhe», das Individuum knapp 2 Millimeter lang, dunkelviolett. Eine Spezies der sogenannten Mikro-Gliederfüsser, Kleinsttierchen, die auf und im Boden leben.


Die Schneeflöhe auf der Wanderung: Zu Millionen krabbeln sie über die Schneedecke. (Bilder:Jürg Zettel)

Die Ehefrau ist zugleich seine Assistentin

Für den Biologen Zettel wurde dieser Winzling zu einem der Schwerpunkte in seiner Forschung. Er gehört mit seiner Frau und Assistentin Ursula Zettel auf dem Gebiet «Ökophysiologie der Schneeflöhe» zur Spitze der internationalen Forscherwelt. Seine bahnbrechenden Studien wiesen z.B. nach, dass die Schneeflöhe aufgrund des Luftdruckwechsels entscheiden, ob sie aus der Erde auf die Schneeoberfläche kommen, um in neue Gebiete zu wandern: Erst bei der Veränderung des Druckes ist nämlich gewährleistet, dass die Luft für die Minitiere feucht genug ist. Und nun tritt Jürg Zettel vom Forscherzenit ab – und geht in Pension. Nach 40 Jahren Arbeit und Ausdauer an der Uni Bern.

Jürg Zettel in Aktion: In seinen Kursen bringt der Biologe den Studierenden die Krabbeltiere näher.

Die Geschichte am englischen Zoll

«Are you Mr. Zettel?» Selbst am englischen Zoll schien Jürg Zettel ein bekannter Mann zu sein. Wurde der Postdoc-Biologe vor 30 Jahren doch mit Namen angesprochen, als er im Rahmen seines Austauschprogramms mit der «Royal Society» von der Schweiz nach Cambridge ans «British Antarctic Survey» reiste. Der Zollbeamte interessierte sich jedoch viel mehr für die seltsame Fracht als für die Person des Berner Insektenforschers: Auf ganz offiziellem Weg hatte sich nämlich herumgesprochen, dass dieser Mr. Zettel Schneeflöhe in seiner Kühlbox mitführe, eine eigentümliche krabbelige Tierart, die mit Gesuchen sogar um einen Quarantänenaufenthalt herumkamen. «Der Zollbeamte wollte lediglich wissen: Do they get rabies?» Tollwut, meinte Zettel grinsend, nicht doch. Nicht seine Schneeflöhe.


Schneeflöhe als violetter Überzug für einen Baumast.

Telefonische Beratung erschrockener Bernerinnen

«Dabei wollte ich als Kind Affenwärter werden.» Bei der Verabschiedung am Institut für Zoologie erfuhren Studis und Team einiges mehr über ihren Insekten-Experten. Nämlich, dass Zettel unter anderem den Führerausweis für Motorboote besitzt, dass er auch schon mal dem Plankton des Bielersees auf den Grund ging. Dass er ausgebildeter Gymnasiallehrer ist, der aber nie vor einer Klasse stand. Dass die «Instituts-Hotline» regelmässig zu ihm durchgestellt wurde, wenn es darum ging, Hilfe suchende Menschen zu beraten: So etwa entsetzte schwangere Frauen aus der Berner Altstadt, die während der Turnstunde verdächtige Insekten mit Stacheln im Zimmer entdeckt hatten und sich vor giftigen Stichen fürchteten. Insektenkenner Zettel konnte entwarnen: «Es ist der Widderbock aus dem Chemineeholz, ein harmloser Käfer mit Wespenzeichnung. Der Stachel wird lediglich zum Legen der Eier benutzt.»

Lateinisch muss nicht sein, ist aber «chic»

«Detail und Schönheit faszinieren mich.» Und oft liegt die Schönheit im Detail: In seiner Laufbahn richtete Jürg Zettel sein Augenmerk immer auf noch Kleineres: Nach seiner Dissertation über Birkhühner, gelangte er von den Vögeln zum Vogelfutter, zu den Insekten. Was immer Zettel ins Ohr pfeift oder vor der Nase vorbeiflattert – der Tierforscher kennt Vogel, Käfer, Wespe und Schmetterling, auch auf «chic», wie er den lateinischen Artennamen nennt. Seine Begeisterung für Insekten färbte auf die Studierenden ab: Wer immer mit den Zettels in den berühmten Pfynwald-Kurs ins Wallis fuhr, dort jagende Grabwespen beobachtete, der Nachtigall lauschte und einen Apollo-Schmetterling beobachtete, begann die Krabbeltiere mit anderen Augen zu sehen.
 

Ein kleines Wunder der Natur: Ein Silbergrüner Bläuling im Wallis.

Insekten kennen – und zeichnen

«Auch ich will wieder besser sehen.» Jürg Zettels linkes Auge hat den Star, den grünen, nun auch noch den grauen. Eine Operation soll die Trübung nehmen, die Farben zurückschenken. Denn der Ökologe wird die Insekten auch nach der Pension nicht verlassen: In seiner Freizeit greift der Tierliebhaber zu Bleistift und Tusche. Mit ruhiger Hand und genauer Beobachtungsgabe entstehen wissenschaftliche Zeichnungen erster Güte, welche die verkannte Ästhetik der Insekten sichtbar machen. «Ich werde mich wohl den Wanzen widmen», sagt Zettel während er das A4-Blatt mit einer Wespenspinne in schwarz-weiss weglegt. Was für den einen Ungeziefer, ist für den anderen Schönheit.
 

Ein Pelzkäfer im putzigen Kleid: Trichius fasciatus.

Augen auf – es passiert etwas

«Ich werde die Uni ein bisschen vermissen – besonders die Studis.» 40 Jahre an der Uni Bern entsprechen einer technologischen Zeitreise: War am Anfang die Spritmatrize das Nonplus-Ultra der Vervielfältigung, steht am Ende die alltägliche Powerpoint-Präsentation im Hörsaal. Doch eines ist für Zettel immer gleich geblieben, nämlich, dass sich die Natur draussen abspielt, auch bei Regen. «Es passiert viel, wenn man nur die Augen aufmacht.» Sagts und lacht. Sieht sich wohl bereits mit «Ursi» durch das Gantrischgebiet wandern, mit dem Feldstecher am Hals, der Lupe in der Hosentasche. Ja, «Zettel & Zettel», wie die Fachwelt die Schneefloh-Experten nannten, sind ein gutes Team. Seit genau 39 Jahren.