Endlos

Seit sieben Jahren entsteht ein Gedicht, Tag für Tag wächst es um ein paar Zeilen. Mit seinen nicht versiegenden Versen gewann Franz Dodel, der an der Zentralbibliothek der Uni Bern als Fachreferent für Theologie arbeitet, den bernischen Literaturpreis. «Nicht bei Trost» ist ein eigenwilliges, ehrgeiziges Projekt, dessen Ziel selbst der Autor nicht kennt.

Von Bettina Jakob 08. Oktober 2009

«meine Wahrnehmung treibt wie / ein Vogel im Wind / der seine Füsse vergisst / er weiss er findet / nichts was ihm Stillstand gewährt». Das sind die Zeilen 15’530 bis 15'534. Das ist der letzte Eintrag, gestern gemacht, und heute wird er schon der zweitletzte sein. Franz Dodel schreibt täglich an seinem «Haiku endlos», wie er sein ehrgeiziges Werk untertitelt, seit sieben Jahren. Manchmal drei Zeilen, manchmal 15. Ist da einer «nicht bei Trost»? Ein gefälliger Gedanke, so Dodel, welcher den nicht versiegenden Zeilen auch den Namen gab: Ein wenig wegen der Verrücktheit, die der Ausdruck feststellt, ein wenig wegen seiner Zweideutigkeit, wie der Autor schmunzelnd sagt – denn: «Nicht getröstet sein, macht einen empfänglich für alles», sagt der Autor, der an der Zentralbibliothek der Uni Bern als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaft arbeitet. Und dieses Alles – irgendwann Gesehenes, soeben Gelesenes, schnell Gedachtes oder Erhaschtes – lässt Dodel durch seine Feder fliessen. Ein Gedicht, assoziativ, in Fragmenten.


Zurzeit bei fast 16'000 Zeilen: das Gedicht des Frans Dodel. (Bild:zvg/Beat Schweizer)

Kein östlicher Ethnokitsch

Doch abheben und einfach die Gedanken munter plätschern lassen, das mag Franz Dodel nicht. «Die Selbstreflexion ist mir wichtig.» Und so kommentiert Dodel laufend sich selbst, Silbe um Silbe, überwacht kritisch sein Geschriebenes. Um die innere Freiheit auf Papier zu bringen, was gerade auftaucht («mein Leib schreibt nicht der Kopf», zitiert er Roland Barthes) nicht durchbrennen zu lassen, hat sich der Autor selbst in ein Korsett gezwungen. Nämlich seinen Text in die japanische Versform des Haiku zu bringen. Die sich abwechselnden 5- und 7-silbigen Zeilen sind für die deutsche Sprache «sperrig», und so beginnt das Brüten über den Wörtern. Das gefällt Franz Dodel, erst diese «Bremse» öffne die Tür zur Inspiration. Mit dem Haiku habe sein Text sonst nichts zu tun – «kein östlicher Ethnokitsch für mich». Die gewählte Form sei nicht mehr als eine befreiende Einschränkung. Ebenso wie die Schnapsidee – und Regel – nach 500 neuen Zeilen stets ein Zitat von Marcel Proust einzuschleusen. Warum? «Ich bin ein Proust-Fanatiker, weiter nichts.»

Sehnsucht grösser als die Erfüllung

«befreit vom Anspruch / des Mitteilen-Müssens zählt / nur die Geste der / schreibenden Hand / angetrieben von / einem Bedürfnis nach Sinn doch / zersetzt diese Form / zum Glück (in ihrer Mattheit) / jedes Erreichen / von Sinn oder Nicht-Sinn das / Ungeordnete / wird zwar vermieden doch stellt / sich Ordnung nicht ein». Keine Ordnung, kein lineares Verständnis, keine Übersicht, kein Ankommen. «Und genau dieses Nicht-Erreichen ist ein Vergnügen», stellt Franz Dodel fest. Unterwegs sein erzeuge Spannung. «Wie auch die Sehnsucht grösser ist als ihre Erfüllung.» Ohne selber zu wissen, wohin er gelangt («wie lange kann man dies überhaupt machen?»), arbeitet er weiter an seinem Wort-Gewebe, dessen Fäden er hier und dort einflicht. Fremdes Garn weist er genauestens aus: Vor jede Zeile, mit welcher Dodel ein Zitat oder eine Interpretation eines anderen Schreibenden berührt, steht eine präzise Quellenangabe. «Darin will ich die totale Transparenz», da sei er sehr «pinggelig», da drücke wohl der Wissenschaftler in ihm durch.

Literaturpreis des Kantons Bern

Zwei Bücher und Tausende von Zeilen in Internet: Das ist aus dem endlosen Haiku des Franz Dodel bisher geworden. Und ein Österreichischer Staatspreis im letzten Jahr und der heurige Literaturpreis des Kantons Bern. Ein privilegiertes Leben führe er, mit seinen zirka zwei Tagen Beschäftigung in der Bibliothek. Womöglich nicht auf Rosen gebettet, aber in voller Eigenregie, täglich zu spazieren und schliesslich im Atelier mit Buchstaben die Momente einzufangen. «Es ist eine Art Meditation. Offenbar auch für die Lesenden, so wie sie mir schreiben», sagt Franz Dodel zum Schluss. Ohne Satzzeichen, damit auch die Empfangenden die Freiheit haben, Sätze weiterzuführen oder eben enden zu lassen. Obwohl der «Haiku endlos» bislang kein Ende hat: «ich schreibe diesen Text als / ob ich jemandem / die Füsse pflegte: ohne / zu fragen wohin / er zu gehen gedenke» – Zeilen 06’382 bis 06'386.

 

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