Ein «Picknick» für die Freiheit
Ein «Paneuropäisches Picknick» an der ungarisch-österreichischen Grenze beschleunigte vor 20 Jahren den Fall der Berliner Mauer und das Ende des «Eisernen Vorhangs». An einer Veranstaltung der Schweizerischen Osteuropabibliothek und des Polit-Forums des Bundes blickte der frühere ungarische Staatsminister Imre Pozsgay auf das historische Ereignis zurück.
Zu Hunderten schlugen sie ihre Zelte in Parks auf, wandelten ihre Trabis und Wartburgs in Nachtlager um, und suchten Schutz in Kirchen und der westdeutschen Botschaft. Budapest befand sich im Sommer 1989 im internationalen Brennpunkt und Ausnahmezustand: Tausende Ostdeutsche mit der Sehnsucht nach Freiheit sammelten sich in der ungarischen Hauptstadt. Was veranlasste unzählige DDR-Bürger ihre Heimat zu verlassen, in der Hoffnung, in den Westen ausreisen zu können?
Ein Fest, das keines werden sollte
Ende der 1980er Jahre entwickelte sich in Ungarn ein starker Reformflügel innerhalb der kommunistischen Regierung und erste oppositionelle Parteien wurden gegründet. Imre Pozsgay galt als einer der wichtigsten Reformpolitiker im Land und war an der Umwandlung des kommunistischen Ungarns in eine Demokratie beteiligt. Unter seiner Schirmherrschaft luden ungarische oppositionelle Gruppen und die Paneuropa-Union am 19. August 1989 zum «Paneuropäischen Picknick» ein. Dabei sollte ein Grenztor im ungarischen Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze, das jahrzehntelang geschlossen gewesen war, symbolisch und medienwirksam für drei Stunden geöffnet werden.
Offiziell sollten sich nur Ungarn und Österreicher aus den nahe gelegenen Dörfern zu einem Volksfest treffen, doch es kam ganz anders. Was als symbolische Aktion der Verbrüderung der beiden Völker geplant war, entwickelte sich zu einem wegweisenden historischen Ereignis. Die Veranstaltung gewann an Eigendynamik und mündete schliesslich in eine Massenflucht. Die Nachricht des von den Organisatoren gezielt mit Flugblättern beworbenen «Fests» machte unter ostdeutschen Urlaubern wie ein Lauffeuer die Runde. Knapp drei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer nutzten um die 700 DDR-Bürger die Gelegenheit, rissen das alte Holztor ein und flüchteten über Österreich in die Bundesrepublik, ohne dass die ungarischen Grenzbeamten eingriffen.
Den «grossen Bruder» herausfordern
«Ich hatte die Idee, dass man einen Präzedenzfall schaffen könnte, wenn dort das Tor für einige Stunden offen wäre und ostdeutsche Flüchtlinge an diesem Grenzabschnitt Ungarn verlassen könnten», erläuterte Imre Poszgay einst in einem Interview. Vollendete Tatsachen sollten geschaffen werden: Das «Picknick» diente als Test, bei dem sich erweisen sollte, wie die sowjetische Führung auf eine erste, «kleine» Grenzöffnung reagieren würde. In kleinen Schritten – Millimeter für Millimeter, wie Imre Poszgay es im vollbesetzten Käfigturm ausdrückte – sollte ausgelotet werden, wie viel sich Ungarn gegenüber der Sowjetunion erlauben konnte.
Zudem, fuhr Imre Poszgay fort, habe der «Eiserne Vorhang» bereits gebröckelt und der Westen davon kaum Kenntnis genommen. Das «Paneuropäische Picknick» sollte diesem Missstand entgegentreten und mediale Aufmerksamkeit erregen. «Man hatte jedoch Mühe gehabt eine Stelle zu finden, wo die Grenze noch intakt war», berichtete er mit einem Lächeln. Denn bereits am 2. Mai 1989 hatte die ungarische Regierung entschieden, den Grenzzaun zu Österreich offiziell abzubauen, er sei «moralisch veraltet», so die Begründung. Ferner, so Imre Poszgay, sei es nicht Sache Ungarns gewesen, Bürger anderer Staaten zu überwachen.

Massenflucht in den Westen
Mit der sukzessiven Grenzdemontage und -öffnung löste die reformorientierte ungarische Regierung eine Lawine los: Immer mehr Ostdeutsche strömten im Sommer 1989 nach Budapest und versuchten ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Vom 10. auf den 11. September 1989, Punkt Mitternacht, öffnete Ungarn die Grenzen zu Österreich – ohne Rücksprache mit der DDR-Führung. Allein vom 11. bis zum 13. September reisten rund 12'000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen.
Das «Paneuropäische Picknick» war die Vorstufe zum Fall des «Eisernen Vorhangs» und der Berliner Mauer am 9. November. In den Worten von Helmut Kohl: «Ungarn hat an diesem Tag den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen».
Das Ende der alten Ordnung
Der Vortag von Prof. Dr. Imre Pozsgay fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Das Ende der alten Ordnung - 20 Jahre Umbruch in Europa» der Schweizerischen Osteuropabibliothek und des Polit-Forums des Bundes im Käfigturm Bern statt. Die Vorträge sind öffentlich und unentgeltlich.