Hugo Chávez und seine «bolivarische Revolution»
Seit 10 Jahren propagiert Hugo Chávez die «bolivarische Revolution», auf deren Basis Venezuela zu einem sozialistischen Staat umgebaut wird – mit durchzogenem Erfolg. Der Berner Soziologe Mathias Domenig erläutert die wichtigsten Stationen und Fundamente der Ideologie.
Rot ist die Farbe der «bolivarischen Revolution» – und Programm bei Veranstaltungen der Chavistas, den Anhängern von Präsident Hugo Chávez. Bei der Feier zum 10-Jahre-Jubiläum verwandelte sich die venezolanische Hauptstadt Carácas in ein rotes Fahnenmeer. Doch der Schein trügt: Wurde er zu Beginn seiner Amtzeit als Hoffnungsträger und Reformer bejubelt, ist die Begeisterung für den Präsidenten gesunken. Viele kehren ihm den Rücken – die Ernüchterung nach 10 Jahren Revolution ist bei vielen gross.

Ein vages Konzept
Hugo Chávez’ Erfolg war das Resultat einer langjährigen politischen und sozialen Krise, die zu grosser Unzufriedenheit breiter Teile der Bevölkerung geführt hatte. Weiter unbestritten sind sein Charisma und seine begnadete Rhetorik. Der Berner Soziologe Mathias Domenig analysierte in seiner Lizentiatsarbeit zahlreiche Reden und Interviews von Hugo Chávez, um die wichtigsten artikulierten Theorien und Themen der «bolivarischen Revolution» zu identifizieren, die sich seit seiner Wahl 1998 abspielt.
Die «bolivarische Revolution» versteht sich als Gegenbewegung zum Imperialismus und Neoliberalismus und hat sich dem Kampf gegen die Obrigkeiten verschrieben. Ihr Ziel ist es, den Sozialismus in Venezuela zu etablieren. Domenig entdeckte bei seiner Untersuchung zentrale Themen, denen Chávez sich hierfür bedient: Es ist ein Mix aus Nationalismus, Antiamerikanismus, Militarismus, Kapitalismus- und Globalisierungskritik sowie weiteren Elementen. So klar das Ziel ist, so vage und offen ist aber das theoretische Fundament. «Die ‹bolivarische Revolution› beruht auf teilweise diffusen, wandelbaren und manchmal gar widersprüchlichen Konzepten», sagte der Soziologe. Das Ganze sei nicht immer schlüssig: «Chávez greift auf einzelne Themen zurück, wie es die Situation gerade erfordert.» Die von Domenig vertretene These ist somit, dass es sich bei der «bolivarischen Revolution» um ein Sammelsurium verschiedener, sich ergänzender Einflüsse handelt, das wählerorientiert und programmatisch präsentiert wird. Die vom Soziologen untersuchten Diskurse lassen eine zusammenhängende konzeptionelle Argumentation vermissen.
Der Staat greift durch
Um seine Vision eines «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» durchzusetzen, traf er teilweise drastische Massnahmen: Chávez enteignete private Grossgrundbesitzer, schränkte kritische Medien ein und verstaatlichte die Schlüsselindustrien – wie die Öl- und Stahlindustrie. Der Sozialist strebt nicht nur nach einer wirtschaftlichen, sondern auch nach einer sozialen und politischen Umstrukturierung des Landes. Dabei wird die venezolanische Gesellschaft zum «sozialen Labor bei der Suche nach einem alternativen Gesellschaftsmodell», erläuterte Domenig am Mittwochskolloquium des Instituts für Soziologie. Ein Riss geht durch die Gesellschaft: Die fortgeschrittene Polarisierung zwischen Oppositionskreisen und Anhängern Hugo Chávez’ führt auch dazu, dass viele Menschen das Land verlassen.

Popularität dank Petro-Dollars
Zum Kernprogramm der sozialistischen Reformen gehören auch Sozialprogramme für die ärmsten Bevölkerungsgruppen Venezuelas. Dank hohen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft konnten Wohnungen gebaut, Bildung kostenlos angeboten sowie eine medizinische Grundversorgung sichergestellt werden. «Diese Sozialprogramme, namentlich im Gesundheits- und Bildungsbereich, stiessen auf grosse Resonanz, wurden jährlich ausgeweitet und als Erfolge der Revolution präsentiert», sagte Domenig. In der Folge ritt der Linkspopulist auf einer langen Erfolgwelle, seine Popularität war sehr hoch – bis zum Fall der Erdölpreise im Sommer 2008. Ein Gegentrend ist seither erkennbar. Die Folge: Kontinuität und Wirkung der Sozialprogramme standen auf dem Spiel. Der Unmut stieg, zumal auch die Lebensmittelpreise, die Arbeitslosenquote und die Inflation in die Höhe schnellten. Dies trifft vor allem jene Schichten, denen die Politik von Chávez eigentlich zugute kommen sollte – die Armen.
Der Reformeifer fordert seinen Tribut
Gründe für die schlechte wirtschaftliche Lage und die sinkende Popularität des Präsidenten sind nicht nur die internationale Wirtschaftskrise, verbunden mit fehlenden Erdöleinnahmen – auch die Wirtschaftspolitik der Regierung Chávez wird vielfach kritisiert. Die staatlichen Markteingriffe hemmen die Innovation und Produktion der Unternehmen. Venezuela ist dadurch stärker von Importen abhängig. Helfen könnte der Regierung ein deutlich steigender Ölpreis. Denn: «Seine Bewegung und seine Macht hängen stark von der Entwicklung des Erdölpreises ab», so Domenig.
Neue Berner Beiträge zur Soziologie
Mathias Domenigs Lizentiatsarbeit wird in Kürze als Buch in der Reihe «Neue Berner Beiträge zur Soziologie» publiziert.