Leidenschaft lehrt
Wie kann das Bildungswesen den individuellen Wünschen und den Forderungen der sich wandelnden Arbeitswelt gerecht werden? Der deutsche Trendforscher Matthias Horx fand an seinem Vortrag an der Uni Bern erstaunliche Antworten: mit Talent und Leidenschaft.
Talent: Das muss der Grundstein des zukünftigen Bildungssystems im Wissenszeitalter sein. Diese Meinung vertritt jedenfalls Matthias Horx, der bekannte Trendforscher und Autor aus Deutschland. Er referierte anlässlich der Aktionswoche «Lebenslanges Lernen» an der Uni Bern über den Wandel der «belehrten zur lernenden Gesellschaft». Und Horx meinte Talent mit seinen vielfältigen Gesichtern: als technische Versiertheit, emotionale Fähigkeit, künstlerischen Ausdruck. Der Trendexperte begründet seine Hypothese wie folgt: «Glück erfährt der Mensch durch gelungene Arbeit.» Am biochemischen Belohungssystem unseres Gehirns erklärt: Der Serotoninspiegel steigt mit der Erfüllung einer selbstgewählten Herausforderung, das Oxytocin verschafft im Anschluss entspannte Zufriedenheit. Dieser so genannten Coping-Effekt sorgt für Erfolg – und logischerweise ist am erfolgreichsten, wer in einem gewissen Bereich talentiert ist. Horx geht davon aus, dass jedermann in einem Bereich, in einer Nische, eine Hochschulbildung durchlaufen könnte – etwa nach finnischem Vorbild, wo 95 Prozent der Bevölkerung eine Matur in der Tasche haben.
Blickt in die Zukunft: der berühmte Trendforscher Matthias Horx. (Bild: Manu Friederich)
Globalisierung hat enorme Auswirkungen
Das Bildung der Zukunft fördert die Entwicklung des Menschen zu sich selbst. Das ist Horx’ Slogan für eine Vision, welche den verschiedenen Ansprüchen der heutigen Gesellschaft und Arbeitswelt gerechter werden soll als vorherrschende Klassen-Bildungssystem mit Real, Sekundar- und Gymnasialstufe. Denn seit den ersten europäischen Kirchenschulen im Mittelalter und der Schule der Disziplin im 18. Jahrhundert verändert sich die Umwelt ständig. Einiges in schnelleren Zyklen wie die Modetrends, anderes langsamer und nachhaltiger wie etwa die Globalisierung. «Sie ist ein Megatrends, der vor rund 120 000 Jahren mit der Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika begonnen hat – und anhält», so Horx. Der grosse Wandel kam mit der industriellen Revolution in Gang: Das Einkommen – und an dieses gekoppelt die Lebenserwartung – der ganzen Erdbevölkerung begann zu steigen, bis heute hat sich weltweit eine «globale Mittelschicht» entwickelt, wie Horx sagt: Zwei Milliarden Kundinnen und Kunden etwa in Indien oder Brasilien erleben erstmals einen bescheidenen Wohlstand.
Gefragt ist Innovation
Diese Entwicklungen haben einen enormen Einfluss auf die Bildung: Das unipolare System – der Westen hat das Wissen, der Osten produziert billig – ist Schnee von gestern: «Im fernen Osten entstehen gewaltige Märkte. Indien bildet längstens mehr Ingenieure aus, als das Europa tut», stellt der Zukunftsforscher klar. Ein Fakt, der die westliche Welt aber nicht beunruhigen sollte. Laut Horx treibt «uns nämlich die Globalisierung nicht aus dem Haus, sondern vielmehr die Leiter hinauf». Gefordert in dieser Situation sei ganz einfach «Innovation, denn es geht nicht mehr um die Produktion von immer höheren Stückzahlen». Eine erfolgreiche Transformation der alten Wertschöpfungen ermöglicht ein entsprechendes Bildungswesen: Auf Fähigkeiten wie Kooperation, Individualismus, Diversität muss gemäss Horx in der Bildung Wert gelegt werden.
Frauen an die Schalthebel
Ein weiterer Megatrend unserer Gesellschaft, der das Bildungswesen revolutioniert, sind die Frauen. «Die klassische Arbeitsteilung der Geschlechter verschiebt sich», erläutert Horx, «immer mehr Frauen sind hochgebildet und klettern in die Führungsetage». In der Schweiz sei zwar die Bildungsparität noch nicht erreicht, aber in Norwegen zum Beispiel seien zwei von drei Hochgebildeten weiblichen Geschlechts. Matthias Horx betonte, wie wichtig es sei, die «Potenz der Frauen für die Ökonomie zu erschliessen». Horx verspricht sich dadurch nicht nur eine stabilere Konjunktur durch die «zurückhaltendere, differenziertere weibliche Einschätzung» von Marktsituationen. Er geht ebenso davon aus, dass Frauen ihre beruflichen und familiären Wünsche unter einen Hut bringen können. Denn gleichzeitig mit einer höheren weiblichen Erwerbsbeteiligung werde auch das Angebot für die Kinderbetreuung ausgeweitet – alles in allem steige die allgemeine Zufriedenheit.
«Selfness» für alle
Damit Karriere, Kinder und Selbstverwirklichung möglich sind, braucht es ein paar Umwälzungen im Bildungssystem: Neben der Förderung der persönlichen Talente müssen Entscheidungsgrundlagen für die Karriereplanung frühzeitig bereit stehen, und die Ausbildung muss an die individuelle Leidenschaft, Neues zu lernen, appellieren. Diese «Selfness», wie Horx den modernen selbstbestimmten Lebensweg – weg vom Alterschicksal zum «Life Design» – bezeichnet, verlangt nach verschiedenen (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten, die über die ganze Lebensspanne verteilt werden können. Denn die Biographie des Industriezeitalters – Kindheit–Erwerbstätigkeit–Ruhestand – ist Geschichte, abgelöst durch die Multigraphie im Wissenszeitalter mit vielen persönlichen und beruflichen Stationen auf dem «Weg zur Weisheit», so Horx.
Die Fächer der Schule der Zukunft heissen emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Kreativität – denn dies sei in der sich wandelnden Arbeitwelt gefragt, weiss der Trendforscher. Alles unterlegt mit Schulungsblöcken, welche die Leidenschaft für neues Wissen ansprechen. Damit das «lebenslange Lernen», so Horx, nicht diesen «zerknirschten Unterton erhält und wie ein Urteil für ein Verbrechen klingt».
Zur Person
Matthias Horx gilt als einflussreichster Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Sein publizistisches Wirken erstreckt sich über einen Zeitraum von 25 Jahren, in denen er zahlreiche Bestseller veröffentlichte – als neuestes Werk «Das Buch des Wandels – Wie Menschen die Zukunft gestalten.» Mit seinem Zukunftsinstitut mit Hauptsitz bei Frankfurt am Main gründete er den wichtigsten Think Tank der deutschsprachigen Zukunftsforschung. Seit Herbst 2007 doziert Matthias Horx für wissenschaftliche Trend- und Zukunftsforschung an der Zeppelin-Universität am Bodensee.