Video-Jagd nach aggressiven Abwehrzellen
Bei der Multiplen Sklerose (MS) attackieren Abwehrzellen körpereigene Nerven im zentralen Nervensystem. Die Zellbiologin Caroline Coisne vom Theodor Kocher Institut untersucht die Signale, welche es den Abwehrzellen erlauben, in das ZNS vorzudringen. Sie erhält den Forschungspreis des Departements Klinische Forschung der Uni Bern.
Leuchtende Punkte bewegen sich durch kleine Kanäle, die sich über den Bildschirm winden. Caroline Coisne erklärt sofort: Die hellen Punkte sind gefärbte Immunzellen, die Kanäle sind Blutgefässe. Die 32-jährige Französin erforscht am Theodor Kocher Institut der Universität Bern die Multiple Sklerose (MS). Bei dieser Autoimmunkrankheit dringen T-Zellen des Immunsystems ins zentrale Nervensystem ein und zerstören die Schutzschicht der Nervenzellfortsätze, das Myelin. Dieser fehlerhafte Vorgang stört die Informationsübermittlung der Nerven, was schliesslich zu Lähmungen bei den betroffenen Patientinnen und Patienten führt. Das Medikament Natalizumab blockiert dieses Eindringen der körpereigenen, aggressiven Abwehrzellen ins Nervensystem erfolgreich. Vor kurzem konnte die Zellbiologin diesen Prozess in einer Videoaufnahme am lebenden Organismus demonstrieren.
Caroline Coisne im Labor, wo die Videomikroskopien durchgeführt werden: Im Hintergrund zeigt eine Aufnahme T-Zellen in den Blutgefässen. (Bild: bj)
Sie wurde am Tag der Klinischen Forschung der Uni Bern mit dem Forschungspreis 2009 über 30'000 Franken für «ein vielversprechendes Projekt einer jungen Forscherin» ausgezeichnet. «Ich fühle mich sehr geehrt und gebe den Dank an das ganze Team weiter», so Coisne.
Eindringen durch die Blut-Hirn-Schranke
Jetzt werden die hellen Punkte auf dem Computer langsamer, docken an den Rändern der Blutgefässe an. Die Forscherin erklärt, was live im Tiermodell passiert: «Das Navigationssystem der Abwehrzellen erkennt bestimmte Verkehrssignale auf der Oberfläche der Blutgefässwand.» Damit beginnt das Auswandern der T-Zellen vom Blut durch die Gefässwand ins ZNS. Bei MS-Patienten durchdringen Abwehrzellen in hoher Anzahl die Blut-Hirn-Schranke, die als physiologische Barriere funktioniert: «Das zentrale Nervensystem soll durch diese Schranke von den stets wechselnden physiologischen Vorgängen im Blutkreislauf geschützt werden.» Doch weil bei MS-Erkrankten das Myelin von den T-Zellen fälschlicherweise als Fremdkörper identifiziert wird, wandern diese durch die Blut-Hirn-Schranke – und der Abbau der Nerven-Schutzschicht beginnt.
Medikament blockiert die Abwehrzellen
Die nächste Szene zeigt plötzlich ein anderes Bild: Auf der Videoaufnahme lassen sich die Leuchtpunkte, also die T-Zellen, nach der Injektion des MS-Medikaments Natalizumab beobachten. «Nur noch wenige lagern an der Gefässwand an», sagt die neue DKF-Forschungspreisträgerin: Natalizumab bindet an zwei Oberflächenproteine der T-Zellen, an die so genannten a4-Integrine. Da aufgrund der blockierten Proteine das Andocken der T-Zellen an der Blutgefässwand verhindert wird, können diese auch nicht mehr ins Zentralnervensystem auswandern. Gemäss Caroline Coisne hat Natalizumab eine sehr gute Wirkung bei MS-Erkrankten. «Diese Live-Videodokumente sind der Beweis, dass Natalizumab tatsächlich diese Wirkung hat», so die Forscherin.
Das Ziel: Noch sicherere Therapie
Die Videosequenz ist zu Ende, doch die Erkenntnisse sind erst der Anfang der MS-Forschung von Caroline Coisne: Bei der Multiplen Sklerose attackieren nämlich nicht nur die T-Zellen das Myelin rund um die Nervenzellen, sondern noch andere Abwehrzelltypen. Es sei noch völlig unbekannt, ob das MS-Medikament Natalizumab auch diese Zelltypen blockiere. «Mithilfe der Videomikroskopie wollen wir klären, welche Rolle die beiden Oberflächenproteine auf verschiedenen Abwehrzellen bei der Einwanderung in das Zentralnervensystem spielen», so Caroline Coisne. Dadurch könne eine noch spezifischere und damit sicherere Therapie der Multiplen Sklerose möglich sein: Die autoaggressiven Immunzellen sollen blockiert werden – nicht aber andere Immunzellen, welche die Überwachung des ZNS sicherstellen.