Musik als Spiegelbild der persönlichen Geschichte

Die libanesische Musikszene spiegelt die Geschichte Beiruts wider. Wie die Stadt hat auch die Musik viele Gesichter. Der Berner Musikethnologe Thomas Burkhalter erforschte für seine Dissertation die libanesische Hauptstadt als kulturellen Schnittpunkt mit einer spannenden Musikszene.

Von Nathalie Neuhaus 01. Juli 2009

«Auf meinen Reisen durch die arabische Welt begegneten mir Musikerinnen und Musiker mit einer ausserordentlichen Lebenserfahrung und einem immensem Wissen», erzählt Thomas Burkhalter, der an der Uni Bern doktoriert hat. In seiner Dissertation «Challenging the Concept of Cultural Difference – ‹Place› in the Music of Contemporary Beirut» stellt er die aktive Musik-Szene Beiruts vor. Die Künstlerinnen und Künstler, mit welchen der Musikethnologe zusammengearbeitet hat, gehören zur gehobenen gesellschaftlichen Schicht und haben internationale Universitäten besucht. «Die Einbettung in ihr soziales Umfeld erzeugt Spannungen», sagt der Berner Musikethnologe. Ihre Biographien prägen die Musikerinnen und Musiker und fliesst in ihre Musik ein. Der libanesische Bürgerkrieg hat während fünfzehn Jahren – von 1975 bis 1990 – getobt und seine Spuren hinterlassen. Die Musik sei die beste Zeugin dafür: Kriegstöne wie beispielsweise Bombengeräusche und Propaganda – Musik voll von Kriegsparolen, sind Teil der libanesischen Musik.

Beirut
Ob HipHop, Death Metal oder arabische Musik – Beiruts Musikszene ist vielfältig. Bild: Thomas Burkhalter

Musikalische Collagen

«Die Musiker aus Beirut sind Aktivisten, die ein anderes Libanon zeigen», so Burkhalter, «und sie wollen vor allem ihr Land selber definieren.» Die Vielfalt der Musik in Beirut zeichnet sich laut Burkhalter durch die Generationen von Musikern ab, die jeweils einen eigenen Stil prägen. In der libanesischen Hauptstadt gehören beispielsweise HipHop, Death Metal, elektro-akustische und arabische Musik und Indie Rock zu den gängigen Musikstilen. Die musikalische Geschichte des Libanon ist ein Sammelsurium populärer arabischer Musik aus Ägypten, urbanisierter libanesischer Volksmusik, aber auch christlicher Liturgie.

«Heute wendet sich die junge Musiker-Generation tendenziell von der lokalen arabischen Volks- und Kunstmusik ab, da diese kommerzialisiert wird», erläutert der Berner Musikethnologe. Die junge Generation versucht deshalb aktiv ihrem musikalischen Schaffen eine individuelle Note zu geben, indem sie unterschiedliche Elemente, wie beispielsweise Propaganda- und politische Musik mit elektronischen Beats oder HipHop vermischen und von den Möglichkeiten der digitalen Welt profitieren – damit gestalten sie neue musikalische Collagen. «Wie die Musik entsteht, ist wichtig», findet Burkhalter, «denn sie ist multidimensional.» In Libanons pulsierender Hauptstadt existiert eine grosse Musikerszene – dort entstehen immer wieder neue künstlerische Kombinationen, in denen die Musikerinnen und Musiker ihre Sichtweise der Realität abbilden.

Collage aus Bildern
Das Netzwerk Norient als Sprachrohr für die weltweite musikalische Entwicklung. Bild:zvg

Eine Plattform verbindet Musik von Bern bis Beirut

Der Berner Musikethnologe liess sich etwas einfallen, um die neuen, spannenden musikalischen Entwicklungen stets mitzuverfolgen und zu dokumentieren: Er hat das «Independent Network for Local and Global Soundscapes» –  ein unabhängiges Netzwerk für lokale und globale Geräuschekulissen gegründet. «‹Norient› ist ein Netzwerk, auf welchem Wissenschaftler, Musikerinnen und Journalisten aus aller Welt Texte über Musik und Musiker schreiben», erklärt Burkhalter. Ein Wortspiel sei der Ursprung des Namens, der auch als Kritik am Orientalismus gedacht sei. Während der Dreharbeiten zum Dokumentarfilm «Buy More Incense» über indische und pakistanische Musikerinnen und Musiker der zweiten Einwanderergeneration in London, den Burkhalter 2002 mit dem Berner Filmemacher und VJ Michael Spahr produziert hat, wurden Stereotypen und Vorurteile, denen die Migranten begegnen, ersichtlich – daraus entstand der Name «Norient».

Beirut bei Nacht
Der libanesische Bürgerkrieg hat seine Spuren auch in der Musik hinterlassen. Bild: Thomas Burkhalter

Ein Blog sowie Pocasts sind künftig als Erweiterung des Online-Netzwerkes geplant. Als Publikationsmöglichkeit für wissenschaftliche Texte auf PhD-Stufe ist ein spezifisches Journal vorgesehen. «Da Norient verschiedene Kreise erreichen will, überlegt sich das Netzwerk eine klare  Leserführung», so der Berner Musikethnologe. Eventuell wird der Wissenschaftsteil humorvoll mit «Achtung Wissenschaft» gekennzeichnet. Thomas Burkhalter will mit seinem Netzwerk dem Musiker als Menschen nahe kommen – «denn dank der Musik lässt sich viel über die Welt erfahren.» Den Musikethnologen, Zeitungs- und Radiojournalisten zieht es weiterhin in den Nahen Osten, wo er Texte schreibt, fürs Radio arbeitet, Seminare an Universitäten hält und Musikinstallationen kreiert, wie beispielsweise für die Ausstellung «Traum und Wirklichkeit. Zeitgenössische Kunst aus dem Nahen Osten» im Zentrum Paul Klee – die Reise geht weiter.

Musikethnologie

nan. Am Anfang der musik-ethnologischen Forschung standen das Sammeln und die analytische Beschreibung von aussereuropäischer Musik und Traditionen. Die Fragestellungen und Methoden der Musikethnologie haben sich heute durch beschleunigte Globalisierungsprozesse, Migrationen und digitale Verbreitungsmöglichkeiten von Musik erweitert. Musik-ethnologie gliedert sich zwischen Musikwissenschaft, Cultural Studies, Sozialanthropologie und Soziologie ein. Musikethnologie versucht Musik und Gesellschaft zu erklären.