Warum die Inder in der Schweiz keinen Tempel haben
In der Schweiz steht kein einziger indischer Hindu-Tempel. Eine Berner Religionswissenschaftlerin fand heraus, warum: Die Gruppenidentität der Inderinnen und Inder, die hierzulande leben, fehlt.
Mal ist es Shiva, der golden und tanzend auf dem Altar steht. Mal ist es Ganesh, der Gott mit dem Elefantenkopf, der als Glücksbringer verehrt wird. Oder es ist Durga, die ekstatisch auf ihrem Tiger reitende Kämpferin. Die indischen Tempel sind unzähligen Gottheiten gewidmet. Die Hindus suchen diese auf, um ihrem favorisierten Gott zu huldigen. Das ist in Indien so, aber auch in europäischen Ländern, wo indische Hinduisten leben. «Nur in der Schweiz nicht», erklärt Ursina Wälchli vom Institut für Religionswissenschaft. Hier in Helvetien steht den rund 10’000 indischen Hindus kein einziger Tempel bereit – im Gegensatz zu den tamilischen Hindus, die eine Vielzahl von Tempeln gebaut haben. Dem «Warum» ging Wälchli in ihrer Masterarbeit über die religiöse Organisation der indischen Hindus in der Schweiz nach – und fand die Antwort in der Geschichte.

«Kein Bedürfnis»
In Portugal stehen zwei Hindu-Tempel, in den Niederlanden sogar über 20, hierzulande kein einziger. «Und dies bei vergleichbarer Grösse der hinduistischen Gruppen», sagt Wälchli – was der Indien-Reisenden sonderbar vorkam. Die zehn persönlichen Interviews, die sie mit hier lebenden Indern aus verschiedenen Gesellschaftsstrukturen geführt hatte, gaben auf den ersten Blick keine klare Antwort. «Es stellte sich heraus, dass einfach kein Bedürfnis nach einem Tempel besteht», sagt Wälchli. Sie wusste zwar, dass Hinduisten aufgrund der relativ freien Strukturen ihrer Religion für deren Praxis nicht eng an Orte oder an Rituale gebunden sind wie Anhängerinnen und Anhänger anderer Religionen. «Zwei Befragte machen vor dem Essen ihr Puja-Ritual, fünf wenden sich bei Bedarf ihrer Religion zu, einer macht regelmässig Yoga und einer besucht protestantische Gottesdienste.»
Blick zurück in den Kolonialismus
Doch diese Erklärung liess Wälchli unbefriedigt. Sie begann den Hintergrund der Hindu-Gruppierungen in den europäischen Ländern zu untersuchen –und fand folgendes heraus: Etwa um 1850 wurden viele Inderinnen und Inder von ihren Kolonialherren in andere Kolonien geschafft, da um diese Zeit die Sklaverei abgeschafft wurde und vielerorts infolgedessen die Arbeitskräfte fehlten. Die Portugiesen zum Beispiel schifften viele Inderinnen und Inder nach Moçambique, wo die kleinen indischen Gemeinschaften eng zusammen lebten – und auch Tempel bauten. Schliesslich wurden um 1950 die Kolonien unabhängig, und die indischen Hindus waren nationalistischen Tendenzen ausgesetzt und nicht mehr willkommen. Die einfachste Ausreise erfolgte in die ehemaligen Kolonialherrenländer, da dies ohne Visum möglich war. Und so landeten viele Inder in Grossbritannien, Portugal und Holland – und blieben.
«Diese Hindus haben bereits eine lange Erfahrung in einem Leben mit Minderheitsstatus», erklärt Ursina Wälchli; sie werden als «Twice Migrants» bezeichnet. Die Inderinnen und Inder in der Schweiz hat nichts Vergleichbares zusammengekittet. «In die Schweiz fand nie eine Gruppenmigration statt, meist reisten Einzelpersonen aus Indien ein.» Aus diesem Grund hätten die 10’000 indischen Hindus in Helvetien auch keine Gruppenidentität entwickelt, folgert Wälchi. Und genau diese hätte es gebraucht, um ein so grosses Bauvorhaben wie einen hinduistischen Tempel umzusetzen – wie dies eindrücklich bei den tamilischen Hinduisten zu sehen sei. Für Wälchli eine logische Konsequenz einer anderen Migrationsform: Die Tamilen flüchteten meist in grösseren Gruppen in die Schweiz und haben dadurch nie den Sinn für die Gemeinschaft verloren.

Die Funktion des Tempels
Sie haben keinen Tempel, doch zu kümmern vermag dies die hiesigen Inder nicht: Sie haben ihren Weg, religiös zu leben, gefunden: Der Eine bleibt der Puja treu, der andere sitzt auf die Kirchenbank. Denn: «Ein Tempel ist wie eine Waschmaschine», erklärte ein Interviewpartner Ursina Wälchli. Was soviel heissen will, wie: Hauptsache ein Tempel wäscht die Seele rein, die Marke der Waschmaschine ist zweitrangig.