Was Zuckmücken den Klimaforschern zeigen
Kastanienwälder sind im Tessin eigentlich nicht heimisch. Und: In die Schutzwälder der Leventina gehören mehr Weisstannen statt Fichten und Buchen. Dies sind zwei Erkenntnisse, die Berner Biologen durch die Klimaforschung gewonnen haben.
Kastanienwälder und das Tessin – das ist für viele Schweizerinnen und Schweizer schlicht ein unzertrennliches Paar. Dabei gehören Kastanienwälder eigentlich gar nicht in unsere Sonnenstube. Sie wurden vielmehr vor hunderten von Jahren von den Römern angepflanzt und fristen seither ein mehr oder weniger ungestörtes Dasein in der italienischen Schweiz. Das könnte sich allerdings ändern – zumindest wenn die Tessiner Regierung den Rat von Berner Klimaforschern befolgt: Ein Team unter der Leitung des Pflanzenwissenschaftlers Willy Tinner erhielt nämlich den Auftrag, zu untersuchen, wie sich der Wald im Tessin am besten in Zukunft nutzen liesse. Ihre Empfehlung: Weisstannen fördern. Hinter diesem Rat steckt jahrzehntelange Forschungsarbeit. «Wir untersuchen, wie die Biosphäre auf Klimaveränderungen reagiert», erklärt Willy Tinner. Biosphäre: Das bedeutet im Fall der Berner Spezialisten Wälder, Wiesen, Bäche – weil hier Terrestriker am Werk sind, die sich mit Landflächen auseinandersetzen. Im Gegensatz dazu gibt es auch aquatische Biosphären – etwa die Weltmeere.

Winzige «Klima-Archive»
Um herauszufinden, welche Pflanzenart in einer Gegend unter natürlichen Bedingungen am besten gedeiht oder gediehen ist, kombinieren die Wissenschaftler verschiedene Daten: Einerseits arbeiten sie mit so genannten Proxys. Das können grössere oder kleinere Pflanzenreste sein – Nadeln, Früchte, Samen, Holzstückchen, Pollen und Sporen. Proxys bleiben zurück, wenn eine Pflanze schon längst abgestorben ist – oft über Jahrhunderte zurück. So finden sich Pollen etwa in Ablagerungen von Seen oder Hochmooren. Ein wichtiger Proxy für die Berner Pflanzenwissenschaftler sind auch die so genannten Chironomiden (Zuckmücken) – weil diese sehr sensibel auf Temperaturschwankungen reagieren. «Jede Art von Lebewesen gedeiht optimal bei einer bestimmten Temperatur», sagt Tinner. «So gilt für eine Palme etwas anderes als für eine Birke.»
Wenn der Mensch manipuliert
Diese simple Erkenntnis nutzen die Wissenschaftler für ihre Forschung: So nehmen sie beispielsweise Gewässerproben und untersuchen, bei welchen Temperaturen die Konzentration an Chironomiden-Larven zunimmt. Damit lassen sich Temperaturdaten der Vergangenheit rekonstruieren, Chironomiden-Larven in See-Sedimenten weisen auf ein bestimmtes Temperaturspektrum hin, das zu jener Zeit geherrscht haben muss. Aus den Vegetationsdaten (z.B. Getreidepollen) lässt sich nun bestimmen, ob der Mensch die Natur in der Vergangenheit manipuliert hat. Für das Tessin beispielsweise liess sich mit solchen Methoden feststellen, dass die Wälder seit den ersten Bauern in der Jungsteinzeit und insbesondere unter den Römern umgestaltet wurden. Die Berner Forscher haben auch festgestellt, dass unter den klimatischen Bedingungen, wie sie jetzt herrschen und sich für die Zukunft abzeichnen, eben die Weisstanne die beste natürliche Wahl für die Ansiedlung ist, von den Tieflagen bis fast zur Waldgrenze. Umgekehrt funktioniert das Prinzip auch: Mit den verschiedenen Proxys lässt sich überprüfen, ob Klimadaten, die mit anderen Methoden gewonnen wurden (z.B. Modellsimulationen), wahrscheinlich sind oder nicht.
Zeitreisen in die Vergangenheit und in die Zukunft
Mit den beschriebenen Methoden können die letzten zwei Millionen Jahre erforscht werden – in der Milliarden alten Geschichte der Erde lediglich ein Wimpernschlag. Um genauere Ergebnisse zu gewinnen, greifen die Berner Pflanzenwissenschaftler zu einem simplen Trick. «Wir ersetzen Zeit durch Raum», erklärt Willy Tinner. «Um die Schweizer Eiszeit zu rekonstruieren, reisen wir in die Arktis oder in Steppengebiete.» Mit den Proxys, die dort untersucht werden, lässt sich zeigen, welche Vegetation in der Schweiz in der Eiszeit mit grosser Wahrscheinlichkeit heimisch war – da damals ähnliche klimatische Bedingungen herrschten wie eben heute in der Arktis oder in den Steppen. Auch im Mittelmeerraum ist das Berner Team unterwegs. Dies ist eine Reise in die Zukunft: Denn, so Tinner, die Proxys rund ums Mittelmeer geben Aufschluss darüber, «was bei uns kommen könnte».