Der Zappelphilipp und die vielen Fragezeichen

ADHS – eine (un)bekannte Störung. Die Ursachen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind vielfältig und noch genereller als angenommen. Das bestätigt Psychiater Benno Schimmelmann von den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern.

Von Bettina Jakob 09. März 2010

Ruhelos, unkonzentriert und unbeherrscht: Ein Kind, das unter ADHS leidet, ist ein unermüdlicher Zappelphilipp und Hans Guck-in-die-Luft. Vieles ist über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bekannt, aber noch viel mehr liegt im Dunkeln, wie Benno Schimmelmann, Leiter der Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern erläutert. Er stellte kürzlich an einem Symposium die aktuellen Forschungsergebnisse ADHS vor – mit folgendem Fazit: «Die Ursachen der Störung sind viel genereller als angenommen.» Rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen sind von ADHS betroffen.

Bild aus dem Buch Struwwelpeter: Zeigt Zappelphilipp, der mit dem Stuhl nach hinten kippt und mit der Tischdecke das Gedeck mit sich reisst
Unruhig und impulsiv war schon der Zappelphilipp im Kinderbuch «Struwwelpeter» von Heinrich Hoffmann um 1845. Bild: Zvg

Längst weiss man, dass ADHS, welches sich bei Kindern und Jugendlichen – und auch bei Erwachsenen –, durch ausgeprägte Unkonzentriertheit, schwer kontrollierbare Impulsivität und hohe Hyperaktivität äussert, «ein heterogenes Störungsbild ist», so Schimmelmann: Zwar sei mit gegen 80 Prozent eine hohe Erblichkeit nachgewiesen. «Aber diese höhere Vulnerabilität äussert sich möglicherweise erst unter ungünstigen psychosozialen Bedingungen als ADHS», so Schimmelmann – und diese wiederum könnten mannigfaltiger nicht sein: Komplikationen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt, Familienkonflikte, aber vermutlich ebenso auch Umweltgifte wie etwa künstliche Farbstoffe.

Neue Gene entdeckt

Die Ursachen von ADHS sind nur schwer zu differenzieren – und nun weitet sich das Feld auf der genetischen Ebene weiter aus: Die Wissenschaftler haben neue Gene unter Verdacht, die bei ADHS-Betroffenen im Vergleich zu gesunden Menschen gehäuft verändert auftreten: «Es handelt sich um Gene, welche für die Neuroplastizität verantwortlich sind», sagt Benno Schimmelmann. Die Neuroplastizität bestimmt, in welchem Mass sich ein menschliches Gehirn an die sich ändernden Umweltbedingungen anpassen kann. «Ist die Plastizität günstig, vernetzen sich die Enden der Nervenzellen im Gehirn – die Synapsen – funktional. Im Alltag sagt dies etwa etwas darüber aus, wie gut ein Mensch aus seinen Erfahrungen lernt und, falls nötig, neue Handlungsmöglichkeiten entwickelt», erklärt Schimmelmann.

Über die Eigenschaften dieser Gen-Veränderungen bei ADHS-Betroffenen kann Schimmelmann noch nichts sagen: «Für einen umfassenden Vergleich dieser Gen-Varianten, die über das ganze Genom verteilt sind, braucht es eine riesige Stichprobenzahl», so der Psychiater und Kliniker; damit eine statistische eindeutige Aussage gemacht werden könne, ist eine Fallzahl von rund 100’000 Betroffenen notwendig.

Ritalin und Epigenetik

Die genetische Forschung hatte sich bisher vor allem auf die Gene konzentriert, welche Informationen für die Regulation der Botenstoffe Dopamin und Serotonin enthalten. Die Regulation dieser Neurotransmitter im Gehirn ist nämlich bei ADHS-Betroffenen nachweislich verändert. «Deswegen lindert das Medikament Ritalin die Beschwerden bei ADHS-Betroffenen, es beeinflusst die Aktivität von Dopamin – die Kinder können sich besser konzentrieren und ihre Impulse unter Kontrolle halten», so Schimmelmann; wie jedoch Ritalin genau auf welche der verschiedenen Neurotransmitter-Systeme einwirkt, auch dies sei bislang nicht abschliessend geklärt.

Fragen über Fragen, denen Schimmelmann gleich eine weitere anhängt: Inwiefern spielt auch Epigenetik bei der Entstehung von ADHS eine Rolle? Die Epigenetik geht davon aus, dass nicht jedes Gen, das vererbt wird, auch tatsächlich aktiv sein muss. Im Gegenteil: Gene könnten gewissermassen abgeschaltet werden, so Schimmelmann. Dies bedeutet, dass Gene unter gewissen Umständen durch eine chemische Veränderung auf der DNA ausser Gefecht gesetzt und möglicherweise sogar so weiter vererbt werden. «Durch einen solchen Prozess könnten Gen-Varianten, die eine ADHS fördern, in den Vordergrund treten und eine Störung auslösen», mutmasst Schimmelmann.

Betreuung der Eltern ist wichtig

Eines ist klar: «Zur individuell angepassten Therapie der Störung mittels genetischen Erkenntnissen ist es noch ein langer Weg – wenn das überhaupt jemals möglich wird», sagt der Forschungsleiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Bern. Er empfiehlt, auf eine individuell angepasste Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu setzen. Hohe Wichtigkeit misst der Psychiater der umfassenden Information, Betreuung, ja gar dem Training der Eltern bei: «Ein strukturierendes und wohlwollendes Umfeld ist für ein Kind mit ADHS sehr wichtig. Dieses ist aber oft nicht einfach zu bieten, da der Umgang mit einem Zappelphilipp sehr belastend sein kann», weiss Schimmelmann.