Medizin mit Herz und Seele

Medizin und Spiritualität scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben. In einem von vielen persönlichen Gedanken geprägten Vortrag zeigte der Berner Herzchirurg Thierry Carrel zahlreiche Berührungspunkte auf und plädierte für eine humanere Medizin.

Von Daniela Baumann 17. Mai 2010

«Beten Sie mit mir vor der Operation?» Mit dieser Frage sah sich der erfahrene Herzchirurg Thierry Carrel eines Tages unversehens konfrontiert, als er am Bett einer Patientin stand, die einen komplexen Eingriff am Herzen vor sich hatte. «In dieser neuen und bis heute einmaligen Situation wurde mir bewusst, dass ich in meiner Ausbildung in keinerlei Weise darauf vorbereitet worden war», erzählte Carrel an einem öffentlichen Vortrag am 2. Europäischen Kongress über Spiritualität und Medizin in Bern. Unsicher, wie er reagieren solle, habe er zur Bibel gegriffen und der Patientin aus dem Buch des Propheten Ezechiel von der Verwandlung des «steinernen in das fleischerne» Herz vorgelesen. Patientinnen und Patienten äussern ihre spirituellen Bedürfnisse selten so spontan, wie es diese praktizierende Katholikin getan hat, weiss Thierry Carrel aus eigener Erfahrung. Deshalb sei eine besondere Sensibilität des Arztes gefragt. In dieser Hinsicht sind die USA einen Schritt weiter. Dort gehört die spirituelle Anamnese – die Abklärung der spirituellen Vergangenheit des Patienten – zur ärztlichen Ausbildung. Carrel, der Direktor der Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie am Inselspital, forderte deshalb, möglichst viele Akteure des Gesundheitswesens mit dieser ganzheitlichen Perspektive vertraut zu machen. Ziel müsse eine Humanisierung der Medizin sein, eine tiefgründigere Betrachtung von Krankheit nicht nur aus technischer, sondern auch aus psychologischer und spiritueller Sicht.

Das Leben endet tödlich – garantiert

Der langjährige Mediziner sieht eine Diskrepanz zwischen der Denkweise der heutigen Gesellschaft und der Realität des Lebens: Unsere Gesellschaft ist geprägt von einem Machbarkeitswahn. Wir leben unter einem Zwang des Siegens; Niederlagen sind nicht vorgesehen – auch nicht im Kampf gegen den Tod. «In der Erwartung der Patientinnen und Patienten müssen wir Ärzte perfekt sein. Wir werden zunehmend zu Herren über Leben und Tod hochstilisiert.» Die Totalitätserwartung an das Leben stehe jedoch im Widerspruch zur realen Begrenztheit desselben: «Das Leben ist die einzige ‹Krankheit› mit 100-prozentig tödlichem Verlauf.» Es sei schwierig, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen, wenn er nichts mehr tun könne, um ein Leben zu retten, sagte Thierry Carrel. Doch zum Arztberuf gehöre eben auch, jemanden sterben zu lassen und im Sterben zu begleiten, so der Fribourger.

Bibel mit Stethoskop
In der Bibel wird wie auch in anderen religiösen Schriften um Fragen des Leidens und Sterbens gerungen. Bild: istock

Leid öffnet Blick für das Wesentliche

Das «Warum» und «Wozu» unserer Existenz sind Fragen, die uns Menschen umtreiben. Im Gegensatz zu den Tieren wollen wir wissen, weshalb wir existieren und welcher Sinn unser Leben hat. Besonders brennend werden solche Fragen, wenn eine schwierige Lebenssituation eintritt – beispielsweise eine lebensbedrohende Diagnose. Warum lässt Gott dies zu? Warum sind die einen bis ins hohe Alter gesund, während andere von Krankheiten heimgesucht werden? Thierry Carrel hob in Anlehnung an die Auffassung der katholischen Kirche die positive Sichtweise hervor, dass der Mensch durch Leid reife und erkenne, was im Leben wirklich wesentlich ist.

Die Medizin hat laut Carrel jedoch keinen einfachen Zugang zu spirituellen Aspekten, da diese nach naturwissenschaftlichem Verständnis nicht eindeutig nachweisbar sind. «Die heilsame Wirkung spiritueller Handlungen wie Gebet oder Seelsorge ist aber heute nicht mehr zu bezweifeln», verwies der 50-jährige Herzspezialist auf die zunehmende Zahl von Studien, die einen positiven Einfluss der spirituellen Dimension auf den Krankheitsverlauf nachweisen.

Aus der inneren Einkehr Vertrauen schöpfen

Selber findet der gläubige Christ in der Spiritualität Vertrauen und Sicherheit in schwierigen Momenten, nachdem beispielsweise ein Patient eine Operation nicht überlebt hat. Carrel sieht in der Arbeit, die er täglich leistet, einen Ausdruck seiner Frömmigkeit und zieht daraus Erfüllung und Befriedigung. Wer ihn vom Mittelpunkt seiner Arbeit – «der faszinierendsten aller Pumpen» – schwärmen hört, zweifelt kaum daran. Sein Talent für glasklare Diagnosen zeigte er auch bei seiner Beurteilung der Gesellschaft: «Unsere Gesellschaft leidet fast schon epidemisch an der Sklerokardie, der Herzenshärte. Sie bedarf eines geistigen Herzwechsels oder eben in den Worten Ezechiels: einer Verwandlung des steinernen ins fleischerne Herz.»

Weiterführende Informationen

Der europäische Kongress über Spiritualität und Medizin

db. Der 2. Europäische Kongress über «Religion, Spirituality and Health» vereinte vom 13. bis 15. Mai Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus diversen europäischen Ländern und den USA in Bern. Die Mediziner, Theologen, Psychologen und Vertreter weiterer Disziplinen beleuchteten den spirituellen Umgang mit Gesundheit und Krankheit aus diversen Perspektiven. Ziel der vom Komitee «Berner Initiative» organisierten Konferenz war es, den interdisziplinären Dialog über Religion und Spiritualität in der Medizin zu fördern.