Vier Religionen in einem Dorf

Hindus, Katholiken, Pfingstler und Vallalar-Folger: In einem Dorf in Südindien leben vier Religionen nebeneinander. Die Friedlichkeit ist durch Pragmatismus geprägt, wie Sozialanthropologin Fabienne Notter herausfand. Ihre Studien hat sie nicht nur zum Lizentiat verarbeitet, sondern auch zu einem ethnographischen Film.

Von Bettina Jakob 30. April 2010

Ein 900-Seelen-Dorf nahe der Ostküste Tamil Nadus, Südindien. Eine Strasse, hunderte von Schafen, ein paar Kühe, unendlich weite Reisfelder. Und vier Religionen – Hindus, Katholiken, Pfingstler und Vallalar-Anhänger, welche scheinbar ganz friedlich  zusammenleben. Dies weckte das Interesse der Berner Sozialanthropologin Fabienne Notter. Wie friedlich ist das Leben in diesem multireligiösen Dorf wirklich? Gibt es ein Miteinander, ein Nebeneinander oder grenzen sich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften am Ende doch voneinander ab?

Gruppenbild
Sozialanthropologin Fabienne Notter zu Gast bei der Hindu-Familie. Bilder: Fabienne Notter

Während einem fünfmonatigen Feldforschungsaufenthalt versuchte Fabienne Notter diesen Fragen auf den Grund zu gehen. In ihrem Lizentiat zeigt sie die Hintergründe der Interreligiosität im Dorf Vadakkalathur auf. Und sie präsentiert sie in allen Farben Indiens, hat sie doch parallel zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen eineinhalbstündigen ethnographischen Film über die Gläubigen gedreht. Der Film trägt den Titel, der auch gleich ein Fazit ihrer Informantinnen und Informanten ist. Es ist alles «Glaubenssache». Ausserdem richtet sich das Zusammenleben im indischen Dorf vielmehr nach Kasten- als nach Religionszugehörigkeit.

Hindus
Farbig präsentiert sich der hinduistische Mariamman-Tempel im Dorf.

Die Hindus und die Katholiken

Der Hindu Murti steht vor den bunt-goldenen Bildern indischer Götter, die in seinem Haus hängen. Ganesh, der Gott mit dem Elefantenrüssel, Saraswati, die Göttin, welche für Bildung und Reichtum zuständig ist und auch Viren, der Familiengott sind da. «Wir beten aber auch zu Maria – alle sollten kooperieren, wir gehören zur gleichen Bevölkerungsgruppe. Alle Menschen sollten glücklich sein.» Mit dieser Aussage über die Gottes-Mutter des christlichen Glaubens repräsentiert Murti die offene Einstellung vieler Hindus gegenüber Andersgläubigen. Sozialanthropologin Notter bestätigt: «Die Hindus in dieser Gegend haben Maria schon lange in ihr Pantheon aufgenommen.» Praktisch in jedem hinduistischen Haushalt klebe irgendwo ein Maria-Bildchen. Ein Blick in die Geschichte erklärt diese Offenheit gegenüber neuen Gottheiten: In Indien herrschen seit jeher verschiedene Volksreligionen mit unzähligen Göttern. Der Hinduismus sei eigentlich ein Konstrukt von westlichen Wissenschaftlern, welche die Diversität der Strömungen aus Nord- und Südindien vereinfacht zusammenfassen wollten, erklärt Fabienne Notter.

Altar in katholischer Kirche
Packianathan führt durch die katholische Kirche: Auch sie ist mit einem bunt bemalten Altar ausgestattet.

Packianathan geht zur kleinen weissen Kirche, zieht am Seil, die Glocke läutet. Seine Familie ist eine der zehn katholischen Familien im Dorf. «Maria und Mariamman sind verschieden», stellt seine Frau Philip Mary zwar klar, doch statten die Katholiken auch Hindu-Göttin Mariamman ab und zu einen Besuch im Tempel ab. Dann nämlich, wenn ihre Kinder an wilden Pocken leiden, die Mariamman heilen kann. «Aber beim Beten denken wir an Maria», distanziert sich Philip Mary zum Schluss doch etwas. Der Katholizismus hat in Südindien eine längere Tradition, die Portugiesen brachten ihn im 16. Jahrhundert ins Land.


Die Pfingstler und die Vallalar-Folger

Die Gläubigen der Pfingstkirche, einer neueren christlichen Erweckungsbewegung, gehen nur in ihre eigene Kirche. «Es gibt nur Jesus», ist für Floria klar. Sie gehört zu einer der vier Pfingstler-Familien im Dorf, die ihren eigenen Gebetskreis haben. «Die Gläubigen kamen meist durch Heilung bei Krankheit oder Leid zu diesem Glauben und grenzen sich in ihren Werten klar von den anderen ab», sagt Fabienne Notter. Ebenso wenig von anderen Göttern wissen, wollen die Anhänger von Vallalar. Vallalar war ein Hindu, der eine eigene Philosophie entwickelt hat, aufgrund derer es nur eine göttliche Macht gebe. Vallalar soll 1874 die Erleuchtung erlangt haben, und sein Geist erscheint den Anhängern als Flamme. Im Haus von Marimuttu und Savithiri brennt sie in Form einer Öllampe Tag und Nacht.

Pfingstkirche
«Zion Church» in Südindien: Die Anhänger der Pfingstbewegung bei der Anbetung.

Die beiden sind die einzigen Vallalar-Folger in Vadakkalathur und haben ein eigenes Gebetshaus. Sie nennen es «Gnana Sabai», was soviel heisst wie «Versammlungsort der Weisheit». «Sie sind überzeugt, dass sie den richtigen Weg gefunden haben, und dass alle andern einfach abergläubisch sind», führt Fabienne Notter aus. Die Anhängerinnen dieser beiden neueren religiösen Bewegungen grenzen sich mehr ab als die Katholiken, die schon eine längere Tradition haben.

Der pragmatische Alltag im Dorf

Was nun als Separatismus erscheint, wird im Dorfalltag jedoch ganz pragmatisch bewältigt: Steht die Reisernte an, stehen die tieferkastigen Dorfbewohnerinnen und -bewohner unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit Seite an Seite im Feld. «In einem Dorf sind alle aufeinander angewiesen, damit die Gemeinschaft funktioniert», erklärt Fabienne Notter. «In Städten ist es einfacher, sich ohne grosse Konsequenzen voneinander abzugrenzen». Interreligiöse Probleme sind in Indien mehrheitlich aus Grossstädten bekannt, wo etwa Konflikte zwischen Hindus und Muslimen entstehen.

Vallalar
Der Geist Vallalars als Flamme beim Eingang von Marimuttus Haus.

Als Entlastung der Andersgläubigen wirkt ausserdem das in Indien traditionelle Kastensystem: «Die Menschen – egal welcher Glaubensrichtung – orientieren sich vielmehr nach der Kasten- als der Religionszugehörigkeit», sagt Fabienne Notter. So wird auch immer innerhalb der Kaste – und dann der Religion – geheiratet. Die Menschen der gleichen Kaste wohnen auch im gleichen Quartier: Und so sind bei den Dalits (die sogenannten Unberührbaren) im südindischen Dorf Hindus, Katholiken und Pfingstler gleich nächste Nachbarn.

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