Wenn nicht nur Patienten Hilfe brauchen

Eine Hirnverletzung – sei es durch einen Unfall oder Hirnschlag – ist auch für das Umfeld von Betroffenen ein einschneidendes Ereignis. Psychologen der Uni Bern haben ein Online-Selbsthilfeprogramm entwickelt, das Angehörigen von Menschen mit einer Hirnverletzung helfen soll, mit der Belastung besser umzugehen.

Von Daniela Baumann 29. Oktober 2010

Plötzlich ist nichts mehr wie vorher: Ein Hirnschlag oder ein unfallbedingtes Schädelhirntrauma trifft Menschen aus heiterem Himmel und verändert ihr Leben grundlegend. – Und auch dasjenige naher Angehöriger. Unmittelbar nach einer Hirnverletzung geht es schlicht um Leben und Tod; im Überlebensfall sind bleibende Symptome wie Lähmungen, Sprachprobleme oder Vergesslichkeit nicht selten. «Die Pflege und Unterstützung des betroffenen Familienmitglieds kann für Angehörige unvermittelt zur Lebensaufgabe werden», sagt Eveline Frischknecht, Doktorandin an der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie. Als Neuropsychologin am Inselspital stellte die angehende Psychotherapeutin immer wieder fest, dass es auch den Angehörigen ihrer Patienten nicht gut geht. Aus der Forschung weiss Frischknecht: «Angehörige haben ein erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken, und leiden häufig unter Ängsten oder Stress.» Blieben sie dagegen trotz Belastung gesund, habe dies nachweislich auch einen positiven Einfluss auf den Rehabilitationserfolg der hirnverletzten Person. Daraus reifte nach und nach ihre Idee, sich in ihrer Doktorarbeit der schwierigen Situation einer Menschengruppe anzunehmen, deren Bedürfnisse im medizinischen Alltag nicht im Vordergrund stehen.

Depressive Person
Eine Depression als Folge der Zusatzbelastung: Dieses Szenario soll Angehörigen dank «Oscar» erspart bleiben. Bild: istock

Fachkundige Begleitung trotz Anonymität

Seit Anfang 2010 ist Frischknechts webbasiertes «guided self-help»-Programm «Oscar» online. Das Angebot für Angehörige von Menschen mit einer Hirnverletzung umfasst neben der selbstständigen Arbeit an 16 Übungsmodulen auch eine wöchentliche Rückmeldung durch eine psychotherapeutische Fachperson. «Anfänglich hatte ich Vorbehalte gegenüber der Idee, ein Selbsthilfeprogramm im Internet anzubieten, gerade weil von Hirnverletzungen auch ältere Menschen betroffen sind», erinnert sich die Doktorandin. Da aber Angehörige durch die plötzlichen Zusatzaufgaben meist einen vollgepackten Alltag meistern müssten, habe sich das Internet dank der zeitlichen und räumlichen Ungebundenheit als das ideale Medium erwiesen.

Rund 100 Studien sind durchgeführt worden, seit internetbasierte Psychotherapie-Programme vor zehn Jahren aufgekommen sind. Sie bestätigen die Wirksamkeit dieser Therapieform – zum Erstaunen vieler Skeptiker, wie Eveline Frischknecht sagt. Sie will herausfinden, ob auch «Oscar» die erwünschten Effekte zeigt und die Belastung naher Angehöriger hirnverletzter Menschen zu reduzieren vermag. Ihre Dissertation ist Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Projekts. «Ein wesentliches Ziel des Online-Coachings ist es, den Teilnehmenden trotz der anhaltenden Belastung zu helfen, zu sich selber Sorge zu tragen und gesund zu bleiben», so die Psychologin. Denn häufig könnten sich Angehörige angesichts des Leids ihres Partners nur schwer eingestehen, dass es ihnen selber auch schlecht geht.

Screenshot einer öffentlich zugänglichen Seite der «Oscar»-Website
Im allgemein zugänglichen Bereich der «Oscar»-Website finden Interessierte Informationen über Hirnverletzungen. Bild: zvg

Noch mehr Teilnehmende gesucht

Wer bei «Oscar» mitmacht, beschäftigt sich während 16 Wochen mit Themen wie Stress, Pausenmanagement, Entspannungstraining oder dem Umgang mit Reaktionen von Aussenstehenden und mit schwierigen Gefühlen. Dabei ist man frei, Zeit und Aufwand selber einzuteilen. Neben der Vermittlung spezifischer Informationen zur Hirnverletzung und möglichen Konsequenzen steht die Analyse des eigenen Erlebens und Verhaltens im Zentrum: Was kann ich tun, um Stress zu verhindern oder zumindest zu lindern? Wie gehe ich mit negativen Reaktionen aus dem Umfeld um? Eine Anti-Stress-Agenda regt zur Umsetzung des Gelernten im Alltag an, und im Forum werden mit anderen Angehörigen Erfahrungen ausgetauscht. Zum Mitmachen aufgerufen sind über 18-Jährige, die einen erwachsenen Menschen mit einer erworbenen – nicht angeborenen – Hirnverletzung unterstützen. Zudem müssen Teilnehmende bereit sein, für die Wirksamkeitsstudie mehrere Fragebögen auszufüllen.

Die Rückmeldungen seien bisher durchwegs positiv, so Eveline Frischknecht. Für eine wissenschaftlich fundierte Beurteilung der Wirkung allerdings benötigt die Studienleiterin mehr als die bisherigen 15 Probandinnen und Probanden. Sie gibt zu bedenken, dass es auch unter einem finanziellen Blickwinkel wünschenswert wäre, um die Wirksamkeit von «Oscar» zu wissen: «Denn gesunde und einsatzfähige Angehörige kommen nicht nur den Patienten, sondern dank Kosteneinsparungen dem ganzen Gesundheitswesen zugute.»

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