Alt Bundesrat Schmid sieht schwarz für die Konkordanz

Ein bisschen Regierung, aber auch ein bisschen Opposition: Diese Haltung kann das Aus der Konkordanz in der Schweiz bedeuten, ist alt Bundesrat Samuel Schmid sicher. In der Vorlesung bei den Berner Politikwissenschaftlern malte er schwarz – hofft aber auf die Vernunft.

Von Bettina Jakob 19. Mai 2011

Ist die gute alte Konkordanz am Ende? Viele Beobachter des Schweizer Politiksystems behaupten dies. Der Berner Politikwissenschaftler Adrian Vatter findet diese Sichtweise jedoch «überzeichnet», wie er kürzlich in der NZZ schrieb. Doch sein Gastreferent in der Vorlesungsreihe «Konkordanz im Wandel» widerspricht ihm: Alt Bundesrat Samuel Schmid glaubt nämlich auch, dass «der Zerfall der Konkordanz weiter fortgeschritten ist, als zugegeben wird». Konkordanz in der Landesregierung – oder zumindest eine teilweise Übereinstimmung – funktioniert gemäss Schmid nur, wenn Loyalität nicht nur deklariert, sondern wirklich gelebt wird. Da sich aber SP und SVP oftmals in die Opposition bewegten, gleichzeitig aber eine angemessene Regierungsbeteiligung verlangten, werde ein lösungsorientiertes Arbeiten erschwert. Solches Gebärden sei «ein Sargnagel» für die Konkordanz.

Bundesrat Samuel Schmid
Referierte vor den Studierenden der Politikwissenschaft an der Uni Bern: alt Bundesrat Samuel Schmid. Bilder: Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Das Einvernehmen bröckelt

Schmid erläuterte aufgrund von Vatters Definition den Kern der Konkordanz: Sie beinhaltet die Einbindung der wichtigsten politischen Kräfte in eine Regierungskoalition, die gleichmässige Verteilung der einzelnen Gruppen im Parlament, eine grosse regionale Autonomie dank eines ausgeprägten Förderalismus und ein Veto, welches die Rechte von Minoritäten vor Mehrheitsbeschlüssen schützt. Und das «Schmiermittel», bezog sich Schmid auf den Zeitungsartikel des Politikwissenschaftlers Vatter, sei «das gütliche Einvernehmen und der konstruktive Dialog». Und genau hier wittert der alt Bundesrat das Bröckeln des «Zauberformel»-Systems: Manche Politiker wollten mit dem Kopf durch die Wand, wie vor Jahren schon sein damaliger Kollege alt Bundesrat Arnold Koller festgestellt hatte. Und wenn diese dann merkten, dass dies nicht funktioniere, machten sie halt auf Opposition. «Das erträgt das System nicht», so Schmid.

Der Kampf im Bundesratszimmer

Samuel Schmid erinnerte sich an früher, als die SP noch die Minderheit im bürgerlichen Bundesrat war: Der linken Partei wurde deshalb eine gewisse «Narrenfreiheit» zugestanden, ihre manchmal wilden Begehren wurden häufig toleriert. Ab und an wurde den Sozialdemokraten mit dem Rauswurf gedroht, aber schliesslich habe sich die SP immer wieder zum Fundament der Demokratie bekannt – «und war eine konstruktive Partnerin». Doch seither hat sich Wesentliches geändert: «Nun sitzen zwei Parteien am Tisch, die sich nicht mehr ganz konform benehmen!» Und zwei Gruppen, die nicht mehr klar zwischen konstruktiver Mitarbeit und Opposition unterscheiden, läuten nachhaltige Veränderungen ein, ist Schmid sicher. «Die Einbindung von parteipolitischen Zielen in die Regierung widerspricht der Aufgabe der sieben Bundesratsmitglieder, eine konsensuale Lösung zu finden.» Natürlich soll ein Politiker um seine Meinung kämpfen, «wird sie aber zum Prinzip gemacht, lähmt dies das Regierungssystem».

Der politische Kampf wird also plötzlich im und aus dem Bundesratszimmer heraus geführt – mit grossen Folgen für das Kollegialitätsprinzip, wie Samuel Schmid in der Vorlesung verriet: In seinem Präsidialjahr wurden ihm von seinen Kolleginnen und Kollegen Dinge anvertraut, die sie im Gremium nicht mehr zu sagen wagten – «weil sie am nächsten Morgen nicht alles in der Zeitung lesen wollten».

Der Schweizer Bundesrat
Das offizielle Bundesratsfoto 2007 – ein Dream-Team? Der Schweizer Bundesrat zwischen Konkordanz und Konkurrenz.

Geld und Markt machen Politik

Eine weitere Herausforderung für das Konkordanz-System ist das Geld: Es gibt Parteien, die über scheinbar unbeschränkte Mittel verfügen, und das habe entscheidenden Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse, so der alt Bundesrat: Inserate schiessen wie Pilze aus dem Boden, aufwändige Wahlkämpfe sind möglich, Abhängigkeiten werden geschaffen und genährt. Nicht zuletzt werden laut Schmid auch die Medien instrumentalisiert, in deren schnelllebigen Welt heute viel, aber wenig Fundiertes abgedruckt werde. Damit werde die subjektive Realität der Leserinnen und Leser geprägt – manchmal auch durch Unwahrheiten. Die Meinungsbildung wird so nach Schmid untergraben. Eine Kontrolle könnte dafür sorgen, dass die Bürgerin und der Bürger «möglichst Produkte serviert bekommen, die in Loyalität geschaffen wurden», meint der alt Bundesrat.

Die Welt dreht sich um den Markt, offenbar auch in der Politik: Samuel Schmid sieht den dritten Sargnagel der Konkordanz in der Haltung der Politiker. Während die einen zwar mit um die Macht ringen, stets aber das Gemeinwohl in den Augen behalten, präsentieren sich andere als Marktteilnehmer, die jede Möglichkeit nutzen, ihre Produkte zu verkaufen. Schmid gibt ein Beispiel: Nicht selten würden aus taktischen Gründen anstehende, für die Gemeinschaft wichtige Geschäfte verschoben, um im Wahljahr gut dazustehen. Nicht auszudenken, wie etwa die Bundesratswahl durch das Volk diese Situation verschärfen würde: «Jede und jeder im Bundesratszimmer wären dann Gegnerin und Gegner», so Schmid, «alle würden versuchen, einander eines auszuwischen und ihrerseits die Gunst der Wählenden zu gewinnen».

Die Kraft der Vernunft

Konkordanz, aber mit viel Konkurrenz – so scheint sich die aktuelle Situation zu präsentieren. Unter diesen Vorzeichen wäre es gemäss Schmid eigentlich ehrlicher, die Zauberformel & Co fallen zu lassen und im Konkurrenz-System zu politisieren. «Halt mit dem Risiko des Referendums, sollte das Volk mit den im Parlament errungenen Vorlagen nicht zufrieden sein», findet Schmid. Die Verfassung lässt grundsätzlich Platz für eine solche Entwicklung. Doch der alt Bundesrat würde den Systemwechsel sehr bedauern. Er hofft weiterhin auf «die verführerische Kraft der Vernunft».

Samuel Schmid

bj. Alt Bundesrat Samuel Schmid, der von 2001 bis 2008 zuerst für SVP später für die BDP in der Schweizer Landesregierung sass, begann seine politische Laufbahn 1972 als Gemeinderat in seiner Wohngemeinde Rüti bei Büren. Der ehemalige Fürsprecher bekleidete auch die politischen Ämter des Gemeindepräsidenten, des Bernischen Grossrats, des National- und des Ständerats.

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