Am Tatort mit dem Rechtsmediziner
Ein lebloser Körper im Park hinter dem Uni-Hauptgebäude: In einer praktischen Vorlesung demonstrierten das Institut für Rechtsmedizin und die Kantonspolizei Bern an einer Puppe, wie die Spurensicherung bei einem Delikt abläuft.
Stephan Bolliger zieht einen weissen Schutzanzug über, ebenso einen Mundschutz und Latex-Handschuhe. Er steigt unter der weiss-roten Absperrung durch und nähert sich dem leblosen Körper, der im Pärkli hinter dem Uni-Hauptgebäude liegt. Was sich den Passantinnen und Passanten an diesem Freitagmorgen als aussergewöhnliches Bild bietet, ist für Rechtsmediziner Bolliger Alltag – welcher aber heute auch für ihn etwas anders ist, zum Glück: Der leblose Körper ist kein toter Mensch, sondern eine Puppe. Sie wurde für eine Vorlesung ins Gras gelegt, welche die Kantonspolizei Bern am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Uni Bern durchführt. Die angehenden Juristinnen und Juristen sollen einen Einblick in die Kriminalistik erhalten – und nun steht nach Computerkriminalität, Datenschutz, Einvernahme und Sachbeweisen das Tötungsdelikt auf dem Programm.

AGT – ein «aussergewöhnlicher Todesfall»
Und so rückt Bolliger für einmal zu Ausbildungszwecken aus. Im Uni-Pärkli zeigt der Facharzt vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern (IRM) den Studierenden, was er mit seinem Team rund 300 mal pro Jahr bei einem sogenannt «aussergewöhnlichen Todesfall» – im Fachjargon ein AGT – tun muss. Nachdem der Arzt, der den Tod einer Person festgestellt, als «aussergewöhnlich» eingestuft und der Justiz gemeldet hat, fährt der von der Staatsanwaltschaft aufgebotene Stephan Bolliger – ob Tag, ob Nacht – an den Fundort. Der kriminaltechnische Dienst der Polizei stellt als erstes Spuren im Umfeld der Leiche fest. Erst wenn Schuhabdrücke und Zigarettenstummel gesichert und Fotos der toten Person aus allen Positionen geschossen sind, darf der Rechtmediziner die Leiche untersuchen.
Auf der Suche nach Stofffasern und DNA
An der Puppe im Uni-Pärkli demonstriert der Berner Rechtsmediziner den genau festgelegten Ablauf: Nackte Hautstellen wie Gesicht und Hände werden mit Tupfern abgestrichen. «So stellen wir körperfremde DNA oder Stofffasern sicher, die nicht von der Kleidung des Opfers stammen.» Die Leiche wird vorsichtig entkleidet, «natürlich unter Abschirmung», wie Bolliger betont. Jeder Körperteil wird auf Verletzungen und Spuren wie Speichel, Haare, Fasern, Sperma abgesucht, der Rechtsmedizinier prüft auch alle Körperöffnungen auf Auffälligkeiten. Stephan Bolliger diktiert seine Beobachtungen auf Band, das Beweismaterial sammelt er in Papierbeutelchen.

Wann trat der Tod ein?
Todeszeitpunkt? Auch die aus dem Dienstagskrimi bekannte Frage versucht Bolliger zu beantworten: «Aufgrund der Umgebungstemperatur lässt sich im Vergleich zur aktuellen Körpertemperatur der Leiche der Todeszeitpunkt schätzen.» 20 bis 30 Minuten nach Todeseintritt sinkt ausserdem das Blut an die tiefsten Stellen im Körper. «Das Verhalten dieser Totenflecken gibt ebenfalls wichtige Anhaltspunkte wie auch der Grad der Muskelstarre, die zwei bis drei Stunden nach dem Hinschied einsetzt.»
Die Untersuchung hinter dem Uni-Hauptgebäude ist abgeschlossen. Stephan Bolliger macht eine Einschätzung zur Todesursache – natürlicher Tod, Unfall, Suizid oder Delikt. «Gelegentlich gelingt es, bereits am Fundort der Leiche auch die Todesursache zu bestimmen», sagt Bolliger. Im wirklichen Alltag folgt schliesslich der Rapport an den Staatsanwalt, der das weitere Vorgehen festlegt. Oftmals sind weitere Untersuchungen am Institut für Rechtsmedizin erforderlich, etwa eine Autopsie und eine toxikologische Untersuchung. «Gerade bei Delikten sind oftmals Drogen oder Alkohol im Spiel», so der Rechtsmediziner.

Bis 450 Autopsien pro Jahr
Zurück von Tatort und Seziertisch schreibt Stephan Bolliger im Büro das Gutachten zuhanden der Staatsanwaltschaft – wenn denn endlich Zeit für Büroarbeit ist: Das IRM der Uni Bern bearbeitet jährlich 1200 bis 1400 Fälle – von Beizenschlägereien bis zum Mord. Dabei nehmen die drei Fachärzte und sechs Assistentinnen und Assistenten 350 bis 450 Autopsien vor. «Ja, pro Tag mindestens eine», sagt Stephan Bolliger, der seinen Beruf «sehr interessant» findet – trotz oder gerade wegen der AGT.