Gefahr verleiht lange Flügel

Unter dem Druck durch feindliche Raubvögel können Meisen-Mütter ihren Jungen längere Flügel wachsen lassen: Dieser maternale Effekt wird von der gestressten Mutter übers Ei auf den Jungvogel übertragen, wie Evolutionsbiologen der Uni Bern festgestellt haben.

Von Bettina Jakob 29. März 2011

Die Kohlmeise ist alarmiert. Ausgerechnet jetzt zur Legezeit treibt sich ein Sperber in ihrem Revier herum. Der Raubvogel könnte für ihre Jungen gefährlich werden. Was wird die aufgeregte Meisen-Mutter tun, um ihren Nachwuchs vor dem Frassfeind zu schützen? Evolutionsbiologen der Universität Bern, Heinz Richner und Michael Coslovsky, haben jetzt herausgefunden, dass die Vogelmutter bereits bei der Eiproduktion die Eigenschaften ihrer Jungen beeinflussen kann: Aus den Eiern, die von Meisen unter Feindrisiko gelegt wurden, schlüpfen Jungvögel mit grösserer Flügelspannweite. «Mit dem zusätzlich geringeren Körpergewicht können die Jungen schneller vor Frassfeinden wegfliegen», liefert Biologe Richner eine mögliche Interpretation der Ergebnisse, die nun im Journal «Functional Ecology» publiziert sind.

Frischgeschlüpfte Kohlmeise im Nest
Frischgeschlüpft ist die junge Kohlmeise hilflos. Doch ihre Mutter hat ihr Anlagen weitergegeben, die ihr helfen, sich der Umwelt möglichst gut anzupassen. Bilder: Zvg

Sperber-Attrappen stressen die Vogelmutter

Die Vogelmütter können offenbar die Entwicklung ihres Nachwuchses über die Eiproduktion steuern. «Bei diesem Informationstransfer handelt es sich um einen so genannten maternalen Effekt», sagt Richner. Um zu beweisen, dass die Information über die ins Ei eingelagerten Stoffe abläuft – und nicht etwa mit der Brutpflege oder verändertem Fütterungsverhalten aufgrund des Stresses zusammenhängt –, liessen die Berner Biologen die Eier der gestressten Vogelmütter von «neutralen», entspannten Kohlmeisen ausbrüten.

Gleichzeitig haben die Forschenden sichergestellt, dass der Sperber – also der Frassfeind – der ausschlaggebende Stressor war, und nicht etwa andere Revier-Eigenschaften: Während die einen Meisen von ausgestopften Sperbern mit Tonband-Singstimme bedroht wurden, wurden anderen Kohlmeisen Attrappen der für sie harmlosen Singdrossel gezeigt und deren Gesang abgespielt. Die Resultate sind eindeutig: Nur diejenigen Jungen, deren Mütter sich mit dem Sperber konfrontiert sahen, entwickelten längere Flügel. Und zwar überraschend schnell: «Der erste Wachstumsschub begann schon am 8. Tag nach dem Schlüpfen», erklärt Richner. Aufgrund von Wiederfängen ist schliesslich klar: Im direkten Vergleich sind die längeren Flügel auch ein Jahr später noch länger.

Sperber-Attrappe in den Bäumen
Das Versuchsdesign: Die Sperber-Attrappe (links) beeindruckt eine Kohlmeise (rechts).

Das Eigelb bestimmt mit

«Mit unserer Studie kann erstmals über eine direkte Manipulation der Umwelt gezeigt werden, dass der Druck durch einen Räuber, also durch Prädation, einen maternalen Effekt auslöst», betont Heinz Richner. Womöglich sei das ausgeprägte Flügelwachstum ein kompensatorischer Ausdruck infolge eines erhöhten Stresshormonlevels der Vogelmutter.

Richner und sein Forschungsteam haben bereits andere Stressfaktoren für Kohlmeisen – wie etwa Parasitenbefall bei der Vogelmutter – untersucht. In jenem Fall konnten die Evolutionsbiologen eine höhere Konzentration von Immunoglobulinen im Eigelb feststellen, welche möglicherweise das Immunsystem der Jungen robuster machen. «Die Zusammensetzung des Eigelbes bestimmt mit, wie gut die Jungvögel mit der Umwelt, in die sie hinein schlüpfen, umgehen können», stellt Richner fest.

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