Martin Walser und die Grenzen der Liebe

Ein unglücklich verliebter Goethe, der am Altersunterschied zu seiner Angebeteten scheitert. In der fiktiven Geschichte zeigt der deutsche Schriftsteller Martin Walser eine (Un)Möglichkeit der Liebe auf. Er war Gast an den «Literarischen Lesungen» der Uni Bern.

Von Bettina Jakob 14. Dezember 2011

«Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.» Mit diesem Satz beginnt Martin Walsers Roman «Ein liebender Mann». Und somit die Begegnung zwischen dem 73-jährigen Wolfgang von Goethe und der 19-jährigen Ulrike von Levetzow, die beim Dichter honigsüsse, aber ebenso verzweifelte Gedanken spriessen lässt. Denn seine Liebe bleibt unerwidert. Die Romanfigur Goethe schwebt zwischen Himmel und Hölle – fragt nach dem Sinn der Liebe: «Ursprung der Tragödie war immer die Liebe. Wozu? Damit der Mensch merkt, dass er nicht mehr im Paradies ist?» An seiner Lesung an der Uni Bern steigt Martin Walser in die Leiden des alten Goethe ein, die er allesamt frei erfand und, wie der Autor selbst betont, «ohne Anspruch auf historische Korrektheit» zu einer Geschichte flocht. Eine wirkliche Begegnung wurde also fiktiver Roman. Das Übel nahm seinen Anfang im Sommer 1823 in Marienbad, wo sich Goethe von Atemwegsbeschwerden erholte, und wo Ulrike von Levetzow in einem Hotel in unmittelbarer Nachbarschaft residierte.

Martin Walser am Rednerpult
Leidet mit «seinem» Goethe mit: Martin Walser an der Lesung an der Uni Bern. Bild:bj

Walser fiebert mit Goethe mit

«Was Liebe vermag. Und was nicht.» Unter dem selbstgegebenen Titel trat der 84-jährige deutsche Schriftsteller in Bern anlässlich der «Literarischen Lesungen» des «Collegium generale» auf. Beim Thema der Reihe «Verschiedene Generationen – verschiedene Perspektiven» sei ihm sofort klar geworden, dass er aus dem «liebenden Mann» lesen wolle: Zwischen den beiden Hauptfiguren liegt nämlich ein satter Altersunterschied von 54 Jahren. Und diese Perspektive macht dem Roman-Goethe zu schaffen: «Daran, dass man alt wird, stirbt man nicht. Schreib’s auf. Schlimm ist, nicht mehr lieben zu dürfen. Lieben darfst du noch, du musst dich nur daran gewöhnen, nicht mehr, nie mehr geliebt zu werden.» Walser lässt Goethes Gedanken in wilder Manier freien Lauf, liest leidenschaftlich als wäre er dieser selbst, ja, «so ein Buch erinnert ja nur, was man selber erfahren hat», wie der Autor bemerkt.

Kennt die Liebe das Alter?

An einem Verlobungsball schickt der Autor Goethe als Werther verkleidet auf die Bühne, Ulrike von Levetzow als Lotte. Der Autor gibt sich Goethes Wechselbad der Gefühle hin, er liest, als kenne er den Text auswendig, als würde die Verlobungsfeier gleich hier im Auditorium der Uni Bern stattfinden. Walser erlaubt Goethe mit Ulrike Walzer zu tanzen, im Dreivierteltakt «eins zu werden mit ihr» – um dann in Eifersucht zu verfallen, als ein anderer sie zum Tanze fordert. Goethe sieht seine Blume sich einer «neuen Sonne zuneigen», einem Mann, der ihr die unerhörten Worte «Il y a quelque chose dans l’air entre nous» ins Ohr haucht.

Mit Walsers empörter Stimme flieht Goethe nach Hause. In der Einsamkeit lässt der Autor seine Figur sich nackt vor dem Spiegel betrachten: «Zärtlichkeit empfand er diesem Körper gegenüber.» Was jetzt, wohin? «Genau zu wissen, was zu tun ist und nicht tun, das ist die Katastrophe», sinniert Goethe über seinen Liebeskummer. «Meine Liebe weiss nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiss es auch nicht», liest Walser mit matter Stimme.

Alte Männer und junge Damen

«Oszillierend zwischen Lyrik und Prosa» zeichnet Martin Walser die unüberwindliche Kluft zwischen den beiden Generationen, wie Germanistik-Professor Peter Rusterholz Walsers Sprache im Roman beschreibt. Martin Walser sei ein «Ringer mit den Sprachen», sage, Sprache müsse nicht recht haben, das Vokabular aber habe recht. In seinem langen Schriftstellerleben waren darüber einige Streitereien entbrannt – auch gerade über seine Geschichten über die Liebe älterer Männer zu jungen Frauen: Ja, Kritikerinnen hätten die Romane als «moralisch, biologisch und ästhetisch unmöglich bezeichnet», sagt der Autor an der Berner Lesung, ein wenig aufgebracht, wie es scheint.

Doch Martin Walser ist sich Gegenwind längst gewohnt: Nach seinem Werk «Tod eines Kritikers» wurde er als Antisemit verschrien. Als er in der bekannten Paulskirchenrede 1998 vom Holocaust als Schande und nicht als Schuld sprach, wurde der Autor vehement kritisiert, zumal Walser als links eingestellter Schreiber galt; er hatte sich etwa aktiv gegen den Vietnamkrieg eingesetzt. Rund 70 Werke hat der Autor verfasst und zahlreiche Preise für seine Werke erhalten. Heute lebt er in Überlingen am Bodensee, drei Autostunden von Bern entfernt, wo Martin Walser nun seinen Goethe eine Dreiviertelstunde lang das Unvermögen der Liebe erfahren liess.

Oben