Ein riesiger Schritt in die Welt der Winzlinge

Neutrinos sind Kleinstteilchen, die eine besondere Eigenschaft haben: Die verschiedenen Typen können sich ineinander verwandeln. Der letzte Mosaikstein, welcher diese Transformationen nachweist, wurde in Japan gefunden – mit Berner Beteiligung.

Von Bettina Jakob 16. Juni 2011

Sie sausen unablässig durch uns hindurch, durch unsere Zellen, durch den Erdball: Neutrinos sind Elementarteilchen, die so winzig klein sind, dass sie Materie beinahe ohne Widerstand durchdringen. Ihre Spuren sind kaum aufzuspüren, da die ungeladenen Mini-Teilchen praktisch nicht mit ihrer Umgebung interagieren. Dabei weisen sie besondere Eigenheiten auf, die für das Verständnis der Grundlagenphysik von Wichtigkeit sind: Die Neutrinos kommen nämlich als drei Typen vor, die sich ineinander verwandeln können. Was bislang nur halb bewiesen war, könnte nun Tatsache sein: Ein internationales Forschungsteam mit der Beteiligung von Berner Forschenden um Antonio Ereditato vom Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP) hat soeben in einem japanischen Teilchenbeschleuniger mit hochsensiblem Photodetektor in rund 300 Kilometer Entfernung die Umwandlung von Müon-Neutrinos in Elektron-Neutrinos entdeckt, wie Marcello Messina und Michele Weber vom LHEP bestätigen.

Photosensoren im Detektor fangen das Licht auf, das die Neutrinos aussenden. (Bilder: Kamioka Observatory, University of Tokyo)

«Das ist der letzte Puzzlestein, der die sogenannte Neutrino-Oszillation beweisen kann», so Messina, nämlich dass sich alle drei Neutrino-Typen ineinander umwandeln können. Die Transformation der Müon-Neutrinos in Tau-Neutrinos ist bereits nachgewiesen – etwa im Opera-Experiment nahe von Rom, welches das LHEP auch mitträgt (siehe Kasten).

Beweis wird nächsten Sommer erwartet

Im «T2K»-Experiment in der japanischen Anlage konnten die beteiligten Physikerinnen und Physiker aus zwölf Ländern insgesamt sechs Umwandlungen von Müon- in Elektron-Neutrinos beobachten. «Noch nicht viele», meint Marcello Messina, aber angesichts der Seltenheit dieser Zerfallsprozesse und der kurzen Beobachtungsdauer – der Teilchenbeschleuniger lief bis zum Erdbeben im März 2011 nur drei Monate und muss nun neu kalibriert werden – ist der Berner Forscher damit zufrieden: Bis im nächsten Sommer soll die Neutrino-Oszillation «hoch signifikant» bewiesen sein, hoffen die Forscher.

Ab Ende Jahr sollen in Japan wieder Müon-Neutronen vom Beschleuniger auf den Weg zum entfernten Detektor geschickt werden. Dort im riesigen Wassertank, der mit hochsensiblen Photozellen ausgestattet ist, werden die Teilchen – entweder Müon- oder eben Elektron-Neutrinos – ihre Spuren hinterlassen: Nach der Kollisionen mit Wassermolekülen hinterlassen diese Interaktionen mit Müon- beziehungsweise Elektron-Neutrinos unterschiedliche Lichtbilder auf den Photosensoren im Detektor. Diese Strahlung, welche ultraschnelle Teilchen aussenden, wird als Cherenkov-Licht bezeichnet.

Der riesige Teilchendetektor mit unzähligen Photodetektoren wird mit Wasser gefüllt.

Der riesige Teilchendetektor mit unzähligen Photodetektoren wird mit Wasser gefüllt.

Bald Antworten auf die grosse Frage?

Die oszillierenden Eigenschaften der Winzlinge sind für Welt der Physik ein riesiges Thema: «Das heute geltende Standard-Modell, welche die heute geltenden physikalischen Grundlagen erklärt, sieht diese Umwandlungen nicht vor», sagt Michele Weber, «es muss also erweitert werden». Da die Neutrinos im Universum sehr zahlreich vorkommen, können die Erkenntnisse über ihre Eigenschaften womöglich auch Antworten auf die ganz grosse Frage des Zusammenspiels von Materie und Antimaterie geben: Mit dem Urknall entstanden gleich viele Teilchen von Materie und Antimaterie, die sich bei Kollisionen gegenseitig aufheben.

«Dass wir Menschen, die Erde, das Sonnensystem heute existieren ist der Beweis, dass zwischen diesen Teilchentypen plötzlich ein Ungleichgewicht aufgetreten ist – es existiert heute mehr Materie als Antimaterie», erklärt Weber. Die rätselhaften Verwandlungen der Neutrino-Teilchen könnten mithelfen, der Ursache dieser Disharmonie auf die Schliche zu kommen, da sie selber solchen Umwandlungsprozessen unterliegen.