Ruth Dreifuss, Helvetia und die Frage nach Lorbeeren
Vor 40 Jahren wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. An einer Podiumsdiskussion der Uni Bern erinnerte sich Ruth Dreifuss an den langen Kampf, bis es so weit war. Die Alt-Bundesrätin sprach mit Historikerinnen und einem Politologen über Gleichberechtigung und Quoten.
Wie steht es um die Gleichberechtigung in der Schweiz – hat Helvetia 40 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechtes Lorbeeren für die Frauenmehrheit im Bundesrat verdient? Darüber diskutierten Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss, Brigitte Studer, Historikerin und Professorin an der Universität Bern, Georg Lutz, Politologe an der Universität Lausanne und Fabienne Amlinger, Historikerin an der Universität Bern. Das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung IZFG hatte die Podiumsdiskussion organisiert, rund 160 Frauen und eine Handvoll Männer waren der Einladung gefolgt.
Keine Lorbeeren für die Schweiz
Nein, Helvetia hat keine Lorbeeren verdient, waren sich die Podiumsteilnehmer einig, schon gar nicht für die späte Einführung des Stimm- und Wahlrechtes für die weibliche Hälfte der Bevölkerung. Diese sei zwar wichtig gewesen, aber eigentlich nicht mehr als eine Normalisierung, sagte Ruth Dreifuss. In erster Linie sei die Verweigerung eines Menschenrechtes – eine Diskriminierung – aufgehoben worden, meinte auch Brigitte Studer. Lob sei aber für diejenigen angebracht, welche damals für das Frauenstimmrecht gekämpft hätten, sagte Fabienne Amlinger. Damit sprach sie vor allem Ruth Dreifuss an, die als Gewerkschafterin und Politikerin an vorderster Front für Frauenanliegen gekämpft hat. In ihre fast zehnjährige Amtszeit als Bundesrätin und Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern fielen die Einführung des Krankenversicherungs- und des Gleichstellungsgesetzes sowie die zehnte AHV-Revision. Ausserdem legte Dreifuss den Grundstein für die später eingeführte Mutterschaftsversicherung.
«Es war enttäuschend und beleidigend, als das Frauenstimmrecht 1959 noch abgelehnt wurde», erinnerte sie sich. Man habe sich in der Folge darauf eingestellt, das Recht auf volle Beteiligung am gesellschaftlichen Leben für Frauen Kanton für Kanton durchzusetzen. Der Kampf gegen «Maschinengewehrsalven» aus irrationalen Gegenargumenten wie dem «Verlust der Weiblichkeit, der Vernachlässigung der Kinder und dem Appell an die weiblichen Schuldgefühle» sei schwierig gewesen, sagte die Alt-Bundesrätin. Mit welchen Bandagen gekämpft wurde, zeige ein Plakat der Gegner: das Foto eines verwahrlosten Mädchens – das Haar ist zerzaust, die Nase rinnt, darunter der Schriftzug «Meine Mutter macht Politik».
Menschenrechte für alle
1971 war es nach jahrelangem Kampf schliesslich soweit: Die Schweiz war reif für das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene. «Strukturelle und konjunkturelle Gründe waren ausschlaggebend», sagte Brigitte Studer. Im Zuge der Hochkonjunktur der Fünfziger und Sechziger Jahre gingen mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nach – die Lebenswelten von Männern und Frauen glichen sich einander an. Nachdem die meisten europäischen Staaten Anfang der 1960er Jahre die europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert oder zumindest unterzeichnet hatten und der Druck der Schweizerinnen immer grösser wurde, war ein wichtiges Argument der Gegner nicht mehr haltbar: «Sie konnten nicht mehr behaupten, die Frauen wollten das Stimmrecht gar nicht», so Studer.
Was hat sich seitdem politisch verändert? Immer wieder werde sie gefragt, was denn die Frauen der Politik bringen, sagte Dreifuss. Sie antworte jeweils: «Wahrscheinlich nicht viel. Aber als Frau muss ich auch keine Bedingungen erfüllen, um dieselben Möglichkeiten wie ein Mann zu haben.» Es sei interessanter, was mit dem Einzug der Frauen in die Politik alles nicht passiert ist, sagte Georg Lutz: «Frauen wählen zum Beispiel nicht konsequent Frauen.» Auch Befürchtungen, dass Frauen extremer wählen – ob links oder rechts – haben sich nicht bewahrheitet. Einige Anliegen wie Umwelt- und Familienfragen hätten aber durchaus von den Frauen profitiert, sagte Dreifuss.
Alibifrau ist für Quoten
Eine Zuhörerin fragte, warum so erschreckend wenige Professorinnen an den Universitäten forschen. Dass Frauen auf Lehrstühlen – wie auch in den Führungsetagen der Wirtschaft – noch eine viel grössere Rarität als in der Politik seien, hänge mit den universitären Strukturen zusammen, sagte Georg Lutz. Die Leiterin des IZFG, Brigitte Schnegg, war etwas direkter: «Die Umverteilung der unbezahlten Arbeit hat noch nicht stattgefunden.» Eine Frau erledige im besten Fall nur 50 Prozent der Haus- und Erziehungsarbeit, ein Mann übernehme das gleiche Pensum im schlechtesten Fall. Dies und die Tatsache, dass Mobilität für eine universitäre Karriere immer wichtiger werde, seien Hindernisse für Frauen in der Wissenschaft.
Auf die Frage nach dem Sinn von Frauenquoten fragte Ruth Dreifuss augenzwinkernd zurück: «Darf ich als Alibifrau antworten?» Denn genau das sei sie gewesen, als sie 1993 an Stelle von Francis Matthey in den Bundesrat einzog. «Ich bin für Quoten, aber an den richtigen Orten», so Dreifuss. Sie sei für Quoten auf den Wahllisten aller Parteien, im Bundesrat, Ständerat und wahrscheinlich auch im Nationalrat. Mit je einem Wahlzettel für die männlichen Kandidaten und einem für die weiblichen wäre der Vorschlag leicht umzusetzen. Spontaner Applaus folgte dem Votum. Der «Alibimann» in der Runde, Georg Lutz, ergänzte: «Die Politik ist voll von Quoten, die alle nicht logisch sind, sondern politische Entscheidungen.» Auch eine Frauenquote wäre nichts anderes.
Menschen statt Männer und Frauen
Auf dem Podium war man sich einig: Die Gleichberechtigung ist zwar auf dem Papier erreicht, aber noch nicht überall umgesetzt. Ruth Dreifuss bemerkte zum Schluss, dass mit der Partizipation der Frauen an allen Lebensbereichen auch eine Last für die jüngere Generation einhergehe: «Meine Grossmutter hat ihr ganzes Leben mit Stickereien verbracht – von ihr wurde nichts anderes erwartet.» Die jüngeren Frauen hätten die Narrenfreiheit, die man ihr und ihren Mitstreiterinnen noch zugestanden habe, nicht mehr. «Ich hoffe, dass diese Last kleiner wird, und jeder Mensch die gleichen Möglichkeiten hat.»