Ein Land schlägt die Brücke zwischen Ost und West

Grenzen überwinden: Die Geschichte der Ukraine ist geprägt von ihrer Lage zwischen Ost und West. Die kulturelle Vielfalt könnte das Land künftig zu einem Vermittler westlicher Werte machen, glaubt Historiker Christophe von Werdt von der Osteuropabibliothek.

Von Matthias Meier 06. Oktober 2011

Nächstes Jahr wird die Fussball-Europameisterschaft in der Ukraine und in Polen ausgetragen. In den medialen Brennpunkt werden 2012 damit zwei Länder rücken, die für viele Menschen bislang weisse Flecken auf der Landkarte waren. Insbesondere die Ukraine wird im westlichen Bewusstsein häufig mit Russland gleichgesetzt. Eine gemeinsame Vortragsreihe des Polit-Forums des Bundes und der Schweizerischen Osteuropabibliothek soll jetzt das flächenmässig zweitgrösste Land Europas besser bekannt machen. Im Eröffnungsvortrag gab der Osteuropa-Historiker Christophe von Werdt von der Uni Bern einen Überblick über die heterogene Kulturgeschichte des Landes. Dabei zieht sich die Bedeutung der Staatsbezeichnung wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte – denn «Ukraine» bedeutet soviel wie Grenzland.


Kein weisser Fleck mehr auf der Landkarte: Die Ukraine. (Karte: TUBS, Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Schwierige Staatsbildung in der Peripherie

Ein Durchzugsgebiet ist das Land der heutigen Ukraine aufgrund der geographischen Voraussetzungen: Sowohl im Westen als auch im Osten fehlen natürliche Schranken. «Die Ukraine war zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert ein Randgebiet – sie lag an der Peripherie der Vielvölkerreiche Polen-Litauen, Osmanisches Reich, Österreich-Ungarn und Russisches Reich», erklärte von Werdt. Mit logischer Folge: Widerstand gegen die Grossmächte prägte die Staatenbildung. Um 1650 gelang es orthodoxen Kosaken jedoch, im Osten der heutigen Ukraine ein weitgehend autonomes Staatswesen, das sogenannte Kosakenhetmanat, zu errichten. Diese Unabhängigkeit währte nicht lange, denn schon Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Ukraine grösstenteils in das Russische Reich integriert. Doch das Kosakenhetmanat hinterliess ein lokales Sonderbewusstsein, welches sich im 19. Jahrhundert zu einem nationalen verstärkte.

Im Umfeld des ersten Weltkriegs kam es zu mehreren Versuchen, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen. Sie scheiterten: Die Bestrebungen wurden von der polnischen Republik und dem bolschewistischen Russland niedergeschlagen. Die Ukraine blieb im 20. Jahrhundert Sowjetrepublik. Erst durch den Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie im Jahr 1991 unabhängig.


Kosaken trugen zur Entstehung eines nationalen Bewusstseins bei: Denkmal in Kiew. (Bild: iStock)

Vermischung der Kulturen

Die Lage im Schmelztiegel verschiedener Kulturen erschwerte die Staatenbildung über Jahrhunderte. Typisch ukrainische, einheitsstiftende Elemente existierten kaum. Vielmehr prägte die Aufnahme verschiedener Merkmale benachbarter Reiche die Kultur. «Diese Anpassung – das Phänomen der Assimilation – an die dominanten Staatskulturen Polens und Russlands wurde vor allem von den sozialen Eliten getragen», erläuterte Historiker von Werdt diese besondere Situation. So integrierten sich im 16. und 17. Jahrhundert ukrainische orthodoxe Adelige sprachlich und konfessionell in den katholischen Adel Polens. Assimilierung fand aber auch in Richtung Russland statt: Die in Kiew formierte ukrainische Bildungsschicht orientierte sich an der russischen Staatskultur in Moskau und St. Petersburg. Einwandererinnen und Einwanderer aus Ost und West förderten die Vermischung der Kulturen zusätzlich. Diese kulturelle Durchmischung erschwerte zwar die Entstehung einer eigenen, ukrainischen Nationalkultur. Andererseits schuf sie eine Besonderheit: Denn die kulturelle Vielfalt – auch Transkulturalität genannt – ist ein entscheidendes Merkmal für die Identität des Grenzlandes Ukraine.


Die noch junge Autonomie der Ukraine wird hochgehalten: Unabhängigkeitsdenkmal in Kiew. (Bild: iStock)

Die Fussball-EM als Chance

«Die Ukraine ist aufgrund dieser Transkulturalität zutiefst europäisch geprägt», sagte von Werdt. «Sie ist ein Begegnungsraum, wo historisch verschiedene Kulturen und Ethnien zusammenwirken.» Damit widerspricht er der verbreiteten These vom «Kampf der Kulturen» zwischen lateinischem und orthodoxem Europa und hebt die Funktion als Brückenland hervor. «Die Ukraine birgt folglich ein bisher ungenutztes Potential für eine schrittweise Annäherung des Ostens an den Westen», glaubt von Werdt. Gerade die gemeinsame Austragung der allseits beliebten Fussball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine kann in diesem Sinne ein positives Zeichen sein.