Von der Parteipresse zum Boulevard
Während die Schweizer Zeitungen in ihren Anfängen hauptsächlich verlängerte Arme der politischen Parteien waren, prägte in den letzten Jahren vor allem der Kampf um Aufmerksamkeit die Schweizer Presse. Der Berner Medienwissenschaftler Peter Meier zeichnet den Weg des politischen Journalismus über die letzten 200 Jahre nach.
Als «schamlos und ruchlos» bezeichnete der radikalliberale «Seeländer Anzeiger» die Berichterstattung der konservativen Konkurrenz. Der «Oberländer Anzeiger» verbreite Lügen über die politischen Parteien, heisst es in dem historischen Dokument weiter. Dem Inhalt nach könnte es von heute stammen, es ist aber gut 170 Jahre alt. Damals ging die erste von vier Phasen des politischen Journalismus in der Schweiz zu Ende, erklärte der Medienwissenschaftler Peter Meier, der am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Bern forschte und momentan seine Dissertation abschliesst. Im Rahmen der Ausstellung «Berns moderne Zeit» in der Unibibliothek referierte er zum Thema «Von der Vielfalt zur Einfalt? – Der Wandel des politischen Journalismus am Beispiel Berns». Die momentan wieder aktuelle Debatte um die Inhalte, Qualität und Rolle der Medien werde seit 200 Jahren geführt, sagte Meier und zeigte die Entwicklung der Schweizer Zeitungen bis heute auf.
Pressefreiheit zunächst nur auf dem Papier
Die Geburt der modernen Schweizer Meinungs- und Gesinnungspresse datierte Meier auf die Einführung der helvetischen Einheitsverfassung 1798. Damals wurde die Zensur aufgehoben und die Pressefreiheit deklamiert. «Sie blieb allerdings toter Buchstabe», sagte Meier. Einige Jahre später wurde die Presse bereits wieder zensiert, da den Regierenden die mitunter scharfen Angriffe der rund 120 Schweizer Zeitungen ein Dorn im Auge waren. Zeitungen waren damals vor allem politische Meinungsblätter und die liberale Bewegung sollte im Keim erstickt werden. Im Kanton Bern – damals der zeitungsreichste Kanton – sank die Zahl der Zeitungen schliesslich auf zwei regierungstreue Blätter. Die Liberalen liessen sich aber nicht aufhalten und 1831 entstand mit dem Burgdorfer «Volksfreund» ein radikales liberales Kampfblatt. In diesem Jahr wurde die Pressefreiheit erneut in der Verfassung festgeschrieben, dieses Mal auf kantonaler Ebene. In der Folge boomten die Zeitungsgründungen. Sogar ein politisches Witzblatt – der «Gukkasten» – bereicherte die Presselandschaft. Noch immer waren die Zeitungen in erster Linie politisch und das Schreiben von Zeitungsartikeln integraler Bestandteil der Politik selbst. Dass sich die Blätter untereinander heftig angriffen, liegt auf der Hand.
Neue politische Akteure
«In einer zweiten Phase wurde die Zeitung zum Massenmedium und der Journalismus professionalisierte sich», so Meier. Vollamtliche Redaktoren und technische Innovationen wie Telegrafie und Rotationsdruck verliehen dem Wort «Aktualität» eine völlig neue Bedeutung und «die Jagd nach dem Primeur begann», wie Meier sagte. In Bern kämpften um die Jahrhundertwende wieder 46 Blätter um die Gunst der Leserinnen und Leser, die meisten standen einer politischen Partei nahe. Die Machtverhältnisse hatten sich allerdings umgekehrt: Während die Liberalen einige Jahrzehnte zuvor noch systematisch ausgegrenzt worden waren, hielten sie nun 30 Zeitungen. Nur gerade 6 Blätter waren neutral.
Auch 1918 war es der Wandel in der politischen Landschaft, welcher die Presse veränderte: die Berner BGB – «Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei», die Vorläuferin der SVP – wurde gegründet. In der Folge sank der Anteil der freisinnigen Zeitungen, die Konservativen gewannen an Einfluss. Diese dritte Phase wurde vom Aufkommen des Radios als Massenmedium begleitet. Es löste die Zeitung als aktuellstes Medium ab.
Boulevard löst Politik ab
Bis in die 1960er Jahre waren Politik und Presse eng aneinander gekoppelt. «Erst dann fand eine Ausdifferenzierung des Mediensystems vom politischen System statt», erklärte Meier. Die Medien orientierten sich neu an der Marktlogik, und ein entscheidendes Verhältnis kehrte sich in dieser Zeit für immer um: Anzeigen lösten den Verkauf als wichtigste Einnahmequellen der Zeitungen ab. Verkaufte Exemplare blieben aber wichtig – Zielgruppe der Presse war nur nicht mehr wie früher der politische Bürger, sondern der zahlende Medienkonsument. Titelsterben und Pressekonzentration schritten voran – in den letzten fünfzig Jahren bis heute halbierte sich die Zahl der Zeitungen in der Schweiz. Dieser Trend wurde verstärkt durch das Aufkommen des Fernsehens und später der Pendlerzeitungen sowie durch die Boulevardisierung der gesamten Medienwelt. In der modernen Presselandschaft herrsche ein neuer Wettbewerb um Aufmerksamkeit, der Politiker wie Journalistinnen betreffe, sagte Meier. Die dadurch ausgelöste Debatte um die Vielfalt der Medien und die Frage danach, wer sie regeln soll, sind aber nicht neu. Sie wurde bereits vor 200 Jahren geführt. Die richtige Antwort war damals so schwierig wie heute.