Wach’ ich oder träum’ ich?
Traum oder Vision? Im Mittelalter konnte ein Traum eine Vision werden. In der modernen Zeit wird eine Vision oft angezweifelt, insbesondere wenn sie von einer höheren Macht stammen soll, wie Germanist Michael Stolz an der Ringvorlesung des Berner Mittelalter Zentrums erläuterte.
Erotische Irrungen und Wirrungen im Zauberwald nahe von Athen: William Shakespeares Schauspiel «A Midsummer Night’s Dream» fand sinnigerweise Eingang in die Einführungsveranstaltung der Ringvorlesung des Berner Mittelalter Zentrums (BMZ) mit dem Titel «Traum und Vision». In der wilden Geschichte, in der sich verzauberte Liebende in einer Elfenwelt verstricken, stehen Traum und Vision unter anderem für das phantasievolle Dichten, wie Germanist Michael Stolz erläuterte. Shakespeares Theaterstück war eine der Stationen, anhand deren der Referent seine Zuhörerinnen und Zuhörer von der frühen Moderne bis zurück ins Mittelalter führte: von den Traumbildern eines Odilon Redon über Dantes «Vita nova» bis zum Nibelungenlied und dem Dichter Frauenlob. An diesen Beispielen führte Stolz aus, welch unterschiedliche Bedeutung dem Träumen in verschiedenen Zeiten zukam. «Traum und Vision berührten sich im Mittelalter eng – anders als in der jüngeren Moderne», so Stolz. Deshalb greife die Ringvorlesung gleich beide Themen zusammen auf.
Die Vision als Wahrheit
«Das mittelalterliche Träumen konnte in Visionen übergehen und umgekehrt», erklärte Michael Stolz. Heute schreibt man die Vision tendenziell dem Wachzustand zu, das Träumen hingegen eher dem schlafenden Zustand. Ausgehend von Sigmund Freuds Traumdeutung um 1900 werden Träume in der modernen Zeit als Ausdruck des Unbewussten verstanden und entsprechend ernst genommen. Ernster jedenfalls als Visionen, die kaum noch als Botschaften, die etwa von einer transzendentalen Macht ausgehen, akzeptiert werden. «Visionen sind allenfalls noch anerkannt, wenn sie als ingeniöse Ideen innerhalb der eigenen Vorstellungskraft stattgefunden haben», erklärte der Germanist. Werden externe oder gar höhere Stellen als Absender genannt, wird das schnell angezweifelt.
An diesem Punkt wies Micheal Stolz auf einen wichtigen Unterschied in der Bedeutung hin: Im Mittelalter waren Traum und Vision nicht Vorgänge, die auf das Innere eines Individuums konzentriert blieben. Vielmehr stellten sie eine höhere, religiöse Wahrheit dar. Ähnlich wie etwa in der alttestamentlichen Geschichte von Josef, der die Träume des ägyptischen Pharao nicht als dessen Ängste deutete, sondern als Ankündigung künftigen Geschehens, nämlich der sieben fetten und mageren Jahre. Und Josef reagierte entsprechend mit der Ausarbeitung eines Vorsorgeplans, er hatte den Traum als Vision interpretiert. «Traum und Vision sind somit Ausdruck eines göttlichen Plans und berühren einander», so Michael Stolz.
Zwischen Traum und Trance
Träume und Visionen wurden erzählt – und oft auch niedergeschrieben: Das kann so geschehen, dass ein Schreibender versucht, einen Traum mit Worten abzubilden – oder aber eine Schreibende erschafft den Traum oder die Vision im Schreibakt selbst. Im Mittelalter bedeutete letzteres nicht, dass eine solche Konstruktion fiktiv sein musste, vielmehr konnte sie «vom Glauben an göttliche Inspiration geleitet sein», erklärte Stolz. In diesem Zusammenhang nannte er die berühmte Seherin Hildegard von Bingen. In ihrem Buch «Scivias» – «Wisse die Wege» – aus der Zeit um 1150 sind verschiedene Visionen aufgezeichnet, wie etwa die des Mikrokosmos-Makrokosmos, gemäss welcher der «kleine» Mensch in seinem Körperbau der «grossen» kosmischen Welt entspricht. Ein Konstrukt, das eine Vision sein könnte? «Es ist nicht auszuschliessen, dass Hildegard von Bingen diese im Mittelalter bekannte Vorstellung in einem meditativen, tranceartigen Zustand imaginiert hat», sagte Stolz.
Wo verläuft, die Grenze zwischen Trance, Traum und Wirklichkeit? Ganz im Sinne von Shakespeares Mittsommernachtstraum: Zum Schluss bemerkt der Elfe Puck, dass der vorgegaukelte Zauber zwar Anstoss erregt haben mag, aber nun mit dem Ende des Spiels vorüber sei. Denn die Zuschauer hätten – selbst verzaubert – nur geschlummert.