Als der Arzt noch keinen Fiebermesser hatte

Täglich 15 Hausbesuche, ausgerüstet mit Kräutern, 75 Rappen pro Konsultation: Wie sah der Alltag eines Mediziners um 1850 aus? Das Journal eines Bieler Arztes gibt Berner Forschenden überraschende Einblicke.

Von Bettina Jakob 09. Januar 2012

Es ist das Jahr 1842, Caesar Adolph Bloesch schreibt des Abends folgende Symptome nieder: «Brennen im Halse, selten Husten, Athem leicht beengt, Klopfen im Kopfe» – Frau März, die Gattin des Bieler Pintenwirts, die er heute wieder besuchte, hat es derzeit nicht leicht. Wegen dauernd wechselnden Krankheitssymptomen von Schwindel und Rauschen im Ohr über Kreuzschmerzen und Schlafstörungen bis zu Erstickungsanfällen, Gedächtnisproblemen und Ameisenkriechen lässt sie den Bieler Arzt zweimal die Woche zu sich rufen. Bloesch, einer von drei Ärzten im damaligen Biel mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern, machte täglich rund 15 Hausbesuche bei Erkrankten. Die Hälfte aller Besuche betraf Patientinnen und Patienten, die über 30 Mal pro Jahr nach dem Arzt verlangten.

Caesar Adolph Bloesch als Gemälde
Verbrachte viel Zeit an seinem Schreibtisch: der Bieler Arzt Caesar Adolph Bloesch. Bild: zvg

«Das ist viel öfters als wir dachten», sagt Hubert Steinke. Der Berner Medizinhistoriker weiss das so genau, weil Bloesch über seine 30-jährige Arbeit als Arzt im Berner Seeland akribisch Buch geführt hat: Auf 25'000 Seiten in 55 Folio-Bänden hat der Doktor in 150'000 Einträgen alle Krankengeschichten und Beobachtungen festgehalten – nun wurden sie im Bieler Stadtarchiv entdeckt. «In diesem Umfang und Detailtreue sind die Aufzeichnungen weltweit einzigartig», so Steinke. In seinem vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützten Projekt wertet er das umfassende Journal aus, «um ein genaueres Bild von Arzt und Patient um 1850 zu erhalten».

Zeig mir Deine Zunge!

Der Praxisalltag eines Arztes im 19. Jahrhundert bestand im Wesentlichen aus Hausbesuchen. Die Kranken liessen Caesar Adolph Bloesch rufen, er kam zu Fuss oder zu Pferd. Am Krankenbett machte der Arzt nicht etwa eine Leibesuntersuchung im heutigen Sinne, er hatte ja damals kaum Instrumente zur Untersuchung. Man interessierte sich gemäss Steinke auch kaum für die organspezifische Lokalisierung von Krankheiten. Es galten noch die alten Grundsätze der Säfte-Lehre: So gaben die Beschaffenheit der Zunge und das Erfühlen von Puls-Qualitäten dem Arzt Aufschluss über den Zustand des Patienten. «Es herrschte das Bild der individualisierten Medizin, die an die persönliche Konstitution gebunden sei, und eine entsprechende Behandlung erforderte», erklärt Steinke.

Die Medizin im Wandel

Doch diese 2000-jährigen Ansichten aus der Antike befriedigten viele Ärzte nicht mehr. Was angesichts der damals grassierenden Infektionskrankheiten und Epidemien wie Grippe und Ruhr verständlich ist. «Die Medizin steckte in einer therapeutischen Krise», erzählt Hubert Steinke: Langsam entwickelte sich eine naturwissenschaftliche Medizin mit neuen Erkenntnissen, die den althergebrachten Theorien in vielerlei Hinsicht entgegenstanden. Allerdings waren auf der neuen Wissensgrundlage noch keine Therapiemöglichkeiten entstanden, so dass sich die praktischen Ärzte nach wie vor mit den üblichen Behandlungen begnügen mussten: Blutegel, Aderlass, Einläufe und Kräutertherapie, erste Versuche gegen Infektionen mit Quecksilber – die mal gut gingen, mal nicht.

«Caesar Adolph Bloesch versuchte immerhin seine Therapie zu optimieren, indem er seine Beobachtungen genau aufschrieb und den Effekt seiner Massnahmen statistisch auswertete», liefert Steinke eine Erklärung für die fast pedantischen Notizen des Bieler Arztes.

Bücher
Rund 150'000 Einträge in 30 Jahren: Bloeschs Journal mit 55 Bänden.

Auch ein Seelsorger

Die Behandlungsmöglichkeiten waren also beschränkt – was der Arzt um 1850 aber auf jeden Fall war: «Ein enger Begleiter im täglichen Erleben von körperlichen und seelischen Leiden», schliesst der Medizinhistoriker aus der Frequenz der Besuche. Und zwar für viele Menschen aus allen Schichten: Bloesch ging zur Magd, zum Handwerker, zum Fabrikdirektor. «Die höheren Schichten waren aber schon übervertreten in Bloeschs Klientel», sagt Steinke. Wohl nicht zuletzt aufgrund des Tarifs von 75 Rappen pro Konsultation, was dem Tagesverdienst eines Arbeiters entsprach. Eingezogen wurde das Rechnungsgeld einmal im Jahr nach dem Zinstag im November.

«Wieviel Bloesch für seine medizinischen Bemühungen tatsächlich erhielt, bleibt unklar – die Rechnungsbücher sind nicht im Nachlass enthalten», bedauert Steinke – der sich aber nicht darüber beklagen will: Das Journal von Bloesch, welches im Stadtarchiv Biel lagert, ist «einfach toll», auch wenn das Erfassen der 150'000 Einträge in Datenbanken eine Fleissarbeit sei. In eineinhalb Jahren will der Medizinhistoriker die Erkenntnisse aus 55 Bänden in einem Buch herausgeben.

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