Das Geheimnis der Geier-Flöte

Ein Knochenspezialist und ein Vogelkundler der Uni Bern versuchen dem Rätsel auf die Spur zu kommen, das eine kleine Flöte aus einem Geier-Knochen aufgibt. In zwei Führungen am 1. und 2. Februar im Naturhistorischen Museum Bern.

Von Bettina Jakob 19. Januar 2012

Da staunten die Berner Archäozoologen nicht schlecht: Unter den Knochen von Rindern, Schweinen und Geissen aus dem 13. Jahrhundert, die beim Sanieren der Kram- und Gerechtigkeitsgasse in der Berner Altstadt vor sieben Jahren ausgegraben wurden, fanden sie zwei Flöten aus Knochen. Die eine stammt vom Schienbein eines Schweins und die andere aus einem Armknochen eines Geiers. «Eines in der Schweiz heimischen Bartgeiers – wie man erst vermutete», sagt Manuel Schweizer, Ornithologe der Uni Bern und des Naturhistorischen Museums. Doch weit gefehlt: Analysen zeigen, dass es sich um einen Knochen eines Gänsegeiers handelt, der zumindest heute hierzulande nur ausnahmsweise vorkommt. Zusammen mit dem Archäozoologen André Rehazek versucht Manuel Schweizer in zwei Führungen im Naturhistorischen Museum der Burgergemeinde Bern dem Geheimnis der Geier-Flöte auf die Spur zu kommen.

André Rehazek vergleicht Flöte mit Geier-Skelett
Archäozoologe André Rehazek ist erstaunt: Die Flöte ist aus einem Gänsegeier-Knochen gefertigt. Bild: Lisa Schäublin, NHM

Flog der Geier in den Norden?

Der Gänsegeier ist heute in Südeuropa, im Nahen Osten und in Asien heimisch. 80 Prozent der europäischen Gänsegeier brüten in Spanien, in Frankreich wurde der Vogel erfolgreich wieder angesiedelt. «Die Beobachtungen vor allem von immaturen Individuen haben auch in der Schweiz in den letzten Jahren zugenommen», sagt Schweizer – besonders in den Sommermonaten. Schwebte der Vogel schon vor 700 Jahren aus den südlichen Brutgebieten bis in die Schweiz? Oder brütete die Art vielleicht sogar bei uns während der relativ warmen Zeitperiode vor der Kleinen Eiszeit vom 15. bis 18. Jahrhundert?

Ein Zitat von Naturforscher Conrad Gessner von anno dazumal liefert jedenfalls ein positives Indiz dafür, dass der Gänsegeier über Helvetien kreiste: «Des (Gänse-)Geyers Nest hat keiner nie gesehen: daher etliche vermeint haben sie stiegen auß einem frembden Land zu uns.»

60’000 Tierknochen in der Berner Altstadt

Oder eine ganz andere These: Hat ein reisender Barde aus dem Süden Europas das Flötchen auf seiner Durchreise in Bern verloren? Archäozoologe Rehazek und Ornithologe Schweizer mutmassen am 1. und 2. Februar über den Ursprung dieser sonderbaren Flöte, die sich mitten unter den ausgegrabenen 60'000 Tierknochen mit einem Gesamtgewicht von über 730 Kilogramm versteckte. Die beiden Wissenschaftler tun dies aus der Vogelperspektive und alles andere als knochentrocken.