Die steile Karriere des Vitamin C

Omnipotentes Heilmittel, Vitaminzigarette oder Sprengstoff: Künstliches Vitamin C durchlief im 20. Jahrhundert eine steile Karriere. Historiker Beat Bächi erläuterte, wie überhaupt eine Nachfrage für Vitaminpräparate entstand.

Von Matthias Meier 05. März 2012

«Der harmlose Mensch, insbesondere die Hausfrau, verlangen [sic] nicht danach; weder Zunge noch Auge wird durch Vitamingehalt zum Kauf gereizt. Die Aufgabe lautete also: durch Propaganda [...] überhaupt erst das Bedürfnis zu schaffen.»
Das Zitat aus einer internen Mitteilung des Pharmakonzerns Roche aus dem Jahr 1939 ist entlarvend: Das Industrieunternehmen rührte in den 1930er und 40er Jahren die Werbetrommel, bis eine Nachfrage für ein Produkt entstand, für das es eigentlich keine Notwendigkeit gab: künstlich hergestelltes Vitamin C. Die «Medizinhistorische Runde» des Instituts für Medizingeschichte der Uni Bern dreht sich in diesem Frühjahrs-Semester rund um das Thema Medizin und Medien. Der Historiker Beat Bächi referierte in der Auftaktveranstaltung über Pharma-Marketing und das Entstehen einer Nachfrage für Vitaminpräparate.

Tadeus Reichstein im Labor
Dem Wirkstoff auf der Spur: Tadeus Reichstein gelang 1932 erstmals die Synthese von Ascorbinsäure. Bilder aus: Beat Bächi: Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933–1953), Chronos Verlag 2009

Wirkstoff sucht Krankheit

«Die Vitamine machten im 20. Jahrhundert eine steile Karriere», sagt Beat Bächi. Zwar war in der Schifffahrt die Vitaminmangelkrankheit Skorbut über Jahrhunderte ein Problem. Jedoch konnten Matrosen auf hoher See bereits im 18. Jahrhundert ihren Vitaminbedarf mit Zitrusfrüchten und Sauerkraut decken. Laut dem Historiker fehlte fundiertes Wissen über die Nährstoffe noch während dem ersten Weltkrieg. Doch in den 1920er Jahren stieg das medizinische Interesse an den einzelnen Wirkstoffen in der Nahrung stark an. Die verschiedenen Vitamine wurden nach und nach entdeckt und klassifiziert. 1932 erfolgte der entscheidende Schritt zur industriellen Vitamin-Produktion: «Dem Chemiker und Nobelpreisträger Tadeus Reichstein gelang es erstmals, Ascorbinsäure, besser bekannt als Vitamin C, synthetisch herzustellen», führt Bächi aus. Von nun an war es möglich, Vitaminpräparate in Form von Tabletten herzustellen.

Bald übernahm der Pharmakonzern Roche das Patent an der Vitamin-C-Synthese und wollte aus der neuen Substanz ökonomischen Profit schlagen. Doch ganz so einfach war dies nicht: «Nun hatte man einen Stoff, jedoch kein medizinisches Problem, welches diesen nötig gemacht hätte. Die Firma stand vor der Herausforderung, überhaupt einen Bedarf für künstliche Vitamine herzustellen», so Bächi.

Zur Ikone hochstilisiert

Für die Vermarktung der Vitamin-C-Präparate setzte Roche auf «Propaganda», damals die gängige Bezeichnung für Marketing. Die Strategie sah laut Beat Bächi vor, den Bedarf der Bevölkerung über die Ärzte zu steigern. Sie sollten ihren Patienten Vitamine verschrieben und so den Umsatz ankurbeln. Roche wendete sich über verschiedene Publikationen an die Akademiker und nutzte deren Einfluss aus. Zu Versuchszwecken, aber auch in Schulen wurden Vitamin-Präparate gratis abgegeben – der Wirkstoff sollte die Leistungsfähigkeit steigern und wurde allmählich zu einer heilsbringenden Ikone hochstilisiert.

Lehrerin am Unterrichten
Abendmahlszene: Eine Lehrerin in Neuchâtel verteilt ihren Schülern 1940/41 Vitamin C.

«Die Verbreitung der Vitamine musste aber auch in einem gewissen Kontext erfolgen – über Reklame wurde ein entsprechender Zeitgeist geschaffen», erläutert Bächi. Werbewirksam präsentierte der Pharmakonzern Vorzeigekonsumenten: Die Leistungsfähigkeit von Sportlern wie Bergsteiger oder Radfahrer wurde in der Werbung auf die Einnahme von Vitaminen zurückgeführt. Während des zweiten Weltkriegs diente gerade auch die Armee als vorbildlicher Vitamin-C-Konsument. «Der Krieg war generell ein sehr wichtiger Faktor für die Verbreitung von Vitamin C. Die Bürger wurden in die Pflicht genommen, für die Gesundheit des Volkskörpers die Präparate einzunehmen», erklärt der Historiker.

Werbung für Vitamin C
«Für Sportsleute ist die Anschaffung der Packung mit 100 Tabletten empfehlenswert», rät die Werbung für das Vitaminpräparat Redoxon.

Sprengstoff und Nylonstrümpfe

Das Marketing funktionierte: Die Produktion stieg in den frühen 1940er Jahren rasch. Nach dem Krieg drohte der Absatz an Vitamin C jedoch einzubrechen. Roche reagierte und weitete das Angebot der Vitamin-C-Präparate aus, was zuweilen absurde Ausmasse annahm. Die Labors produzierten etwa Vitamine für Hunde, Katzen und sogar für Rotfüchse. Ein weiteres Standbein fand das Pharmaunternehmen im Vertrieb von vitaminhaltigen Kosmetikprodukten. «In den 1950er Jahren wurden gar vitaminisierte Nylonstrümpfe sowie Zigaretten lanciert – diese Produkte scheiterten jedoch am Markt», so Bächi. In den 1970er Jahren schlug der Konzern einen total neuen Weg ein: Ascorbinsäure wurde als Bestandteil eines neuartigen Sprengstoffes – des sogenannten «Golden Powder» – verwendet. Die Entwicklung dieses Sprengmittels wurde 1990 jedoch eingestellt. Im Gegensatz zu Vitamintabletten als Gesundheitsförderer fehlte es «Golden Powder» stets an der nötigen Durchschlagskraft auf dem Markt.

Vitamin C

Ascorbinsäure, besser bekannt als Vitamin C, ist für den menschlichen Organismus lebenswichtig. Ein Mangel an Vitamin C führt zu Skorbut und verringert die Leistungsfähigkeit erheblich. Vitamin C ist in zahlreichen Nahrungsmitteln enthalten, so dass eine ausgewogene Ernährung den täglichen Bedarf deckt.

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